Artenschutz? Warum Jäger in England brutale Jagd auf Eichhörnchen machen

08.10.2018 12:18

In Nordengland jagen sie graue Eichhörnchen, um rote  Eichhörnchen zu retten. Denn das Rote sei typisch britisch. Ist das Artenschutz oder brutaler Nationalismus?

Ein graues Eichhörnchen zu beseitigen sei nicht schwer, sagt der Jäger. Man mache das so: Vor Sonnenuntergang stellt er eine Falle auf, einen Käfig mit dünnen Gitterstäben, darin liegen Erdnüsse, Mais und Haselnüsse. Am frühen Morgen, wenn die grauen Eichhörnchen Futter suchen für ihre Jungen, laufen sie in die offenen Käfige, laufen über die kleine Wippe, und die Metallklappe fällt zu. Gefangen. Ein paar Stunden später kommt er, der Jäger, und in der Falle wartet ein graues Eichhörnchen mit buschigem Schwanz. Der Jäger nimmt ein Stück Baumrinde, drückt es dem Eichhörnchen auf den Rücken, dann hält es meist ganz still, sagt er, spiele tot, obwohl das Herz des Eichhörnchens rast, das könne er spüren.

Manche schlagen dem Eichhörnchen dann mit einem Knüppel auf dem Kopf, er aber zieht seine Pistole aus dem Halfter, die schwarze mit der gemaserten Griffschale, seine Lieblingswaffe. Im Magazin stecken Projektile, nicht größer als Erbsen. Er schiebt den Lauf zwischen die Gitterstäbe, zielt dem Eichhörnchen direkt auf den Schädel, drückt den Abzug. Der Knall verhallt in den Baumwipfeln. Er zieht den schlaffen Körper aus dem Käfig und wirft ihn für die Bussarde auf den Waldboden. Dann, sagt er, gebe es ein graues Eichhörnchen weniger im Vereinigten Königreich, und die Plage, die wir Menschen verursacht haben, werde bekämpft, durch ihn, den Menschen. Er parkt seinen Landrover, zieht eine Cordjacke über und sagt, dass wir genau das jetzt machen werden: Eichhörnchen beseitigen oder, wenn man das denn so sagen wolle, Eichhörnchen töten. In Großbritannien leben zwei verschiedene Arten, die roten Eichhörnchen, die auch in Deutschlands Bäumen klettern, und die Grauhörnchen, die aus Nordamerika stammen. Seit ein Engländer vor 140 Jahren zwei Grauhörnchen im Garten seiner Villa nahe Manchester freiließ, vermehrten sie sich rasant. Aus zwei Grauhörnchen sind schätzungsweise 3,5 Millionen geworden. Sie verdrängen die Roten, nur noch rund 150.000 von ihnen laufen durch die Wälder von Nordengland und Schottland. Um das britische Eichhörnchen zu retten, muss das amerikanische Grauhörnchen sterben. Hobbyjäger keulen sie, beseitigen sie, kontrollieren ihre Population. Ich habe noch nie so viele verschiedene Wörter fürs Töten gehört wie in diesen Tagen  in England.

Nordengland auf der Jagd nach dem grauen Eichhörnchen

Die EU und die bri­tische ­Regierung finanzieren einige der jagenden Naturschutzvereine, und sogar der größte Öko Englands, Prince Charles, hat einen Masterplan, um die Grauen zu sterilisieren und auszurotten. Aber darf man eine Spezies für das Überleben einer anderen töten? Und warum verdient das britische Eichhörnchen eher zu überleben als das amerikanische?

Kapitel 1 ­— Der Fremde

Ich reise an die Front. Die Grafschaft Cumbria grenzt an Schottland. Durch-zogen von Laubwäldern und Seen, auf denen versmogte Londoner Familien- väter in zu engen Poloshirts mit ihren Sonnenhut tragenden Partnerinnen beim Kanufahren versuchen, wieder zu Atem zu kommen. Oder sie können beim Waldspaziergang eine Tierart beobachten, die aus Südengland vor Jahrzehnten verdrängt wurde: das rote Eichhörnchen.

Ich treffe einen Mann, der dafür sorgen will, dass die Roten auch weiterhin im Norden leben. Trevor Cooper ist 70 Jahre alt, fährt einen tarngrünen Landrover aus den Fünfzigern. Er jagt, seit er in Pension ist, Grauhörnchen in den Wäldern. "Grey control", nennt er das. Ich sitze neben ihm auf dem ledernen Beifahrersitz ohne Anschnallgurt, der Fahrtwind trägt den Geruch von verbranntem Motoröl davon. Trevor spricht von der "Invasion der Grauen". Seine scharfkantige Stirn spannt sich an beim Reden. Die Nickelbrille rutscht den Nasenrücken herunter, als er bremst und auf den Wald deutet. Die Grauen kämen von Süden her über die Hügelkante ins Tal. Sie wiegen doppelt so viel wie die Roten, können auch unreife Nüsse verdauen, paaren sich öfter, keine natürlichen Feinde. Das mache es fast unmöglich für die Roten, sich in ihrem Biotop zu behaupten. Sie brauchen menschliche Hilfe. Auch sind die Grauen längst nicht so putzig wie die Roten, sie sehen eher aus wie Ratten. Und genau wie Ratten tragen sie Krankheitserreger mit sich: die Eichhörnchen-Pocken. Gegen die sind die Grauen immun, die Roten nicht. Trevor zeigt mir Bilder von roten Eichhörnchen mit aufgequollenen Gesichtern und blutunterlaufenen Augen. Das ist etwa so berührend wie diese Facebook-Videos, in denen sie einer Meeresschildkröte einen Plastikstrohhalm aus dem Nasenloch ziehen.

Trevor war früher Bergbau-Ingenieur, ein steifer Typ, der Militärvokabular wie "immediate action" in seine Sätze baut und keine Unterbrechungen toleriert, wenn er über Eichhörnchen doziert. Knapp 9000 Graue haben Trevor und seine Mitstreiter im vergangenen Jahr in Nordengland "controlled". Ihre Grasmere Red Squirrel Group gehört zu einem Netz von Umweltorganisationen und Jagdverbänden, die das rote Eichhörnchen retten wollen. Trevor hat am Vortag Fallen auf­gestellt. Ein befreundeter Jäger, der mitgekommen ist, ebenfalls 70, graue Haare und wild gewachsene Augenbrauen, nimmt seine Pistole, stapft den belaubten Hügel hinauf, flucht, weil sein linkes Knie dabei schmerzt.

Der Mann findet eine der Fallen, zieht die Plane zurück, bereit für den Feind im grauen Pelz. Doch der Käfig ist leer. Die Schalen der Erdnüsse liegen auf dem Käfigboden verstreut. Weil alle Fallen leer sind – ein Beweis ihrer erfolgreichen Arbeit, wie Trevor betont –, will er mir noch ein paar rote Eichhörnchen zeigen, den Grund für das alles.

Kapitel 2 — Der Ureinwohner

Wir sitzen in Trevors Garten. Sein kleines Haus liegt direkt am Hang mit Blick auf das grüne Tal. Er serviert Tee, mit Milch, ohne Zucker, und wir schauen zwei roten Eichhörnchen dabei zu, wie sie den Stamm einer Buche auf und ab rennen. Trevor hat Futterkörbe im Garten aufgestellt. Auf seinem Sofa liegen Kissen mit gestickten roten Eichhörnchen auf den Bezügen. Jeden Morgen und Nachmittag kommen sie zu ihm in den Garten, wie alte Freunde. Zugegeben, die Roten gehören zu den süßesten Säugetieren, die  Mutter Evolution hervorgebracht hat. Ihre grazilen Körper sind 30 Zentimeter groß, verlängert von einem Puschelschwanz. Die abstehenden Haare auf den zarten Öhrchen sorgen dafür, dass ich verzückte "Ooh"-Laute von mir gebe, während die Hörnchen an ihren Erdnüssen nagen.

Ab und an, erzählt Trevor, verirrt sich ein Grauhörnchen in seinen Garten, dann holt er sofort sein Luftgewehr, lädt durch und schießt das Hörnchen vom  Ast. Manchmal tropfe noch ein bisschen Milch aus der Zitze eines toten Tieres. Dann weiß er, dass die Jungen jetzt im Nest verhungern. Die Tierschützer rege das auf, aber so sei das eben mit der  Natur, ganz normal. Die britische Re­gie­rung und die EU bezeichnen die Grauhörnchen als gebietsfremde invasive Art. Viel angsteinflößender und tötungswürdiger kann man ein Tier kaum nennen. Außer vielleicht nuklear verstrahltes ­Malaria-Grauhörnchen.

"Warum verdienen die roten Hörnchen eigentlich eher zu leben als die Grauen?", frage ich. Trevor sagt: "Die Grauen gehören hier nicht her, die Roten aber leben in Großbritannien seit der letzten Eiszeit. Eine britische Ikone." Ich frage: "Ist das also wie ein Eichhörnchen-Brexit, alles Fremde runter von der Insel?" Nein, viele befreundete Jäger hätten für die EU gestimmt. Aber er glaube daran, dass jeder sich um seinen eigenen Fleck Land kümmern und dort die Entscheidungen treffen sollte, nicht irgendwelche Bürokraten in Brüssel.

Ich frage: "Kann man denn überhaupt alle 3,5 Millionen Grauen töten?" Trevor berichtet, dass Prince Charles persönlich ein Programm finanziert, um ein Medikament zu entwickeln, das graue Eichhörnchen sterilisiert. Man könne das Mittel mit Nutella vermischen und in den Wäldern verteilen. Innerhalb von ein paar Jahren wären sie ausgestorben, sagt er und lächelt.

Ich erzähle, dass ich am nächsten Tag eine Aktivistin in London besuchen will, die graue Eichhörnchen rettet, pflegt und wieder auswildert. Trevor kratzt sich das rasierte Kinn und fragt: "Weiß sie nicht, dass die Roten aussterben durch ihre Arbeit?" Sie sei sicher ein Anti: anti-control, anti-red, anti-killing. Wahrscheinlich kenne sie im Süden eh nur die Grauen. Wahrscheinlich möge sie einfach nur süße, flauschige Tiere. Wahrscheinlich sei sie sogar Veganerin.

Kapitel 3 — Die Gegenbewegung

In einem Londoner Vorort öffnet Natalia Doran die Tür eines Reihenhauses. Sie ist 54, blonde Haare, freundliches Lächeln. Die Raufasertapete riecht nach nassem Hundefutter. "Eine Tasse Tee vielleicht? Milch, Zucker?", fragt sie zur Begrüßung. Ich nicke. Sie holt Sojamilch aus dem Kühlschrank. Aha, denke ich.

Wir setzen uns auf die Terrasse, und neben uns in einem Käfig rennt ein graues Eichhörnchen die Gitterstäbe hoch. Das Grauhörnchen heißt Nutkins und ist einer ihrer Pflegefälle, sie vermutet einen neurologischen Schaden bei ihm, eine geistige Behinderung vielleicht. Er hat keine Angst vor Hunden und Katzen, nimmt sie nicht als Feinde wahr. Sie ­könne ihn deswegen nicht freilassen und steckt eine Erdnuss (mit Schale, das möge er) vorbei an den Gitterstäben. Nutkins nagt mit seinen Vorderzähnen an der Nuss herum. Ich frage: "Natalia, magst du einfach gern süße, flauschige Tiere?" "Ja, natürlich", sagt sie. "Bist du voreingenommen?" "Wer ist das nicht, wenn er von etwas überzeugt ist?"

Natalia hat mal für die BBC Nachrichten gesprochen. Mit ihrem autistischen Sohn betreibt sie heute eine Pflegestation für Eichhörnchen, die "Urban Squirrels". Leute finden zurückgelassene Grauhörnchen-Babys in Parks und bringen sie zu ihr. Sie zieht sie mit der Flasche auf und darf im Jahr maximal zwölf Hörnchen wieder freilassen. Der britische Gesetzgeber verhängt 3000 Pfund Strafe für  jedes weitere. Nach der Freilassung droht den Hörnchen sowieso, dass sie im nächsten Park von ein paar Rangern geknüppelt werden, sagt Natalia.

Ich erzähle ihr von meinen Erleb­nissen im Norden. Dann beginnt ihre Gegenrede. Sie sagt, nur 13 Prozent der Roten sterben an Pocken, viele mehr werden von Autos überfahren und überhaupt sei die Art schon bedroht gewesen, bevor die Grauen kamen. Man hätte sogar rote Eichhörnchen aus Skandinavien importieren müssen. Sie seien also nicht mal richtig englisch. Aber warum unterstützen die EU und die Regierung das alles? "Natürlich sind die Grauen invasiv und verdrängen die Roten. Es ist momentan wissenschaftliche Mode, sie dafür zu töten", sagt sie. Im Laufe der Evolution  sei es schon tausendmal passiert, dass eine besser angepasste Art die andere vertreibt. Wir laufen durch ihr Haus,  und ich sehe Kissenbezüge – mit Grauhörnchen bedruckt. An meinen Beinen schmust eine Katze, der ein Auge fehlt. "Natalia, glaubst du, diese Jagd auf Grauhörnchen hat auch etwas mit dem Brexit zu tun?" Sie überlegt eine Weile. Dann sagt sie: "Ich verstehe, was du meinst. Da ist eine Parallele: Abneigung gegen das Fremde, egal ob Mensch oder Tier." Aber das sei ihr zu oberflächlich, und überhaupt habe sie keine Zahlen, um zu belegen, dass alle Grauhörnchen-Jäger auch Nationalisten und Brexit-Befürworter seien. Die Suche nach Identität sei ja  etwas Gutes, sagt sie, solange sie eben nicht zu Gewalt führe.

Kapitel 4 – Die Invasion

Zwei Tage später lese ich, dass sich graue Eichhörnchen auch in Norditalien aus­gebreitet haben. Sie könnten, behauptet der Artikel, bald über die Alpen nach Deutschland einhoppeln und hier die  roten Eichhörnchen verdrängen. In meinem Kopf beginnt ein Schwarz-Weiß-Film zu laufen.  Ich sehe einen Politiker mit schlecht sitzender Hundekrawatte, der dazu aufruft, das deutsche Eichhörnchen zu schützen. Ich sehe eine Frau im Hosenanzug, die sagt, das Töten der Grauhörnchen sei alternativlos. Und ich sehe Trevor, der seinen Landrover im Englischen Garten in München auf dem Fußweg parkt, eine Taube aus dem Weg tritt und sein Luftgewehr mit Erbsen- Munition durchlädt.

Diese Geschichte stammt aus der sechsten Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.

 

Quelle