Bindungsangst: Wenn die Nähe anderer Panik verursacht

15.10.2019 10:48

Menschen sind soziale Wesen: Wir sehnen uns nach Liebe und nach einem Partner, der uns versteht. Doch nicht jeder kann diese Nähe zulassen. Woher die Bindungsangst kommt und was dagegen hilft, lesen Sie hier.

Was ist Bindungsangst?
Was sind die Ursachen der Bindungsangst?
Was sind die Symptome der Bindungsangst?
Wie erkennt der Arzt Bindungsangst?
Wie wird Bindungsangst behandelt?
Kann ich vorbeugen?
Wie sind die Heilungschancen?

Was ist Bindungsangst?

Wer unter Bindungsangst leidet, hat Probleme, sich auf eine feste, dauerhafte Partnerschaft einzulassen. Der Wunsch danach, zu lieben und geliebt zu werden, wird überlagert von der Angst vor emotionaler und körperlicher Nähe. Dies kann zu einem ambivalenten Verhalten führen: Einerseits sehnt sich der Betroffene nach einer erfüllten Beziehung, andererseits versucht er, den (potenziellen) Partner auf Abstand zu halten.

Um dies zu gewährleisten, entwickeln Beziehungsphobiker verschiedene Vermeidungsstrategien: Menschen mit aktiver Bindungsangst können sich nur schwer auf einen Partner festlegen, haben lockere Affären oder stürzen sich in die Arbeit. Von ihnen hört man Sätze wie “Der Richtige war eben noch nicht dabei”, “Ich brauche meine Freiheit” oder “Ich habe gerade keine Zeit für etwas Festes”.

Trotzdem können Personen mit aktiver Bindungsangst in einer Beziehung leben. Allerdings weigern sie sich in diesem Fall häufig, Verantwortung zu übernehmen und über die gemeinsame Lebensplanung wie Hausbau, Heirat und Kinderwunsch zu sprechen. Das Verhalten dem Partner gegenüber ist oft kühl, distanziert oder sogar aggressiv.

Darüber hinaus kennt die Psychologie den Begriff der passiven Bindungsangst, der folgende Bedeutung hat: Die Betroffenen suchen sich bevorzugt Partner, die unerreichbar sind – etwa weil diese bereits vergeben sind oder weit entfernt wohnen. Manchmal wählen sie auch einen Partner, der ihnen offensichtlich nicht guttut und sagen Sätze wie “Ich verliebe mich eben immer in den Falschen.” Da sich viele Menschen ihrer Bindungsangst nicht bewusst sind, ist unklar, wie hoch die Zahl der Betroffenen ist. Sicher ist nur, dass es sich nicht um ein rein männliches Problem handelt: Sowohl Männer als auch Frauen können Beziehungsphobiker sein.

Was sind die Ursachen der Bindungsangst?

Die Gründe für die Entwicklung einer Bindungsangst liegen oft in der frühen Kindheit: Ist die Beziehung zu den Eltern gestört, kann dies weitreichende Folgen haben. Insbesondere eine abweisende, wenig liebevolle Mutter kann in einem Kind das Gefühl auslösen, den Ansprüchen anderer nicht zu genügen. Das schmälert das Selbstvertrauen und fördert Versagensängste sowie die Angst vor Nähe. Um nicht erneut verletzt zu werden, gehen die Betroffenen festen Bindungen dann aus dem Weg.

Aber auch eine überfürsorgliche Mutter kann das spätere Beziehungsverhalten ihres Kindes negativ beeinflussen. Menschen, die extrem behütet aufgewachsen sind, empfinden feste Partnerschaften nicht selten als erdrückend oder bedrohlich und vermeiden diese daher lieber. Nicht zuletzt können – womöglich unbewusste – Missbrauchserfahrungen dahinterstecken, wenn Menschen unter Bindungsangst leiden.

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Darüber hinaus spielt die Beziehung der Eltern untereinander eine Rolle. Hat der Bindungsphobiker als Kind beispielsweise die schmerzhafte Trennung von Mutter und Vater hautnah miterlebt, musste sich nach der Scheidung vielleicht sogar für einen Elternteil entscheiden, kann dies den Glauben an die Sinnhaftigkeit einer festen Partnerschaft erschüttern. Dazu kommen die eigenen Erfahrungen aus vorangegangen Liebesbeziehungen: Wer in der Vergangenheit verletzt oder betrogen wurde oder mit einem klammernden, einengenden Partner zusammen war, hat möglicherweise Probleme, sich erneut auf einen anderen Menschen einzulassen.

Was sind die Symptome der Bindungsangst?

Menschen mit Bindungsangst gehen festen Beziehungen häufig aus dem Weg. Sie haben Angst davor, die Wünsche des Partners nicht erfüllen zu können oder stellen unrealistisch hohe Erwartungen an sich und andere. Ihre Sorge, dass die Beziehung scheitern könnte, ist größer als die Angst, alleine zu bleiben. Um nicht von einer anderen Person abhängig zu sein, Gefühle zeigen zu müssen und dadurch verletzbar zu werden, halten Beziehungsphobiker andere auf Distanz. Dies kann nicht nur für (mögliche) Partner gelten, sondern auch in Freundschaften. Unverbindliche Flirts oder Affären beenden diese Menschen oft einfach durch Kontaktabbruch.

Aber auch innerhalb einer festen Beziehung haben viele Betroffene Strategien gefunden, um den Partner auf Abstand halten: Bindungsphobiker fangen zum Beispiel grundlos Streit an oder verweigern körperliche Nähe. Der Grund dafür ist nicht zwangsläufig sexuelle Unlust, sondern die Angst davor, sich einem anderen vollständig zu öffnen. Fehlendes Verantwortungsbewusstsein, übertriebene Vorwürfe und eine plötzliche Trennung können ebenfalls zum Verhaltensrepertoire eines Beziehungsphobikers gehören.

Häufig leidet der Betroffene selbst unter seinem Verhalten, denn auch Bindungsphobiker können den (verlorenen) Partner vermissen. Dazu können verschiedene körperliche Symptome kommen wie Beklemmungsgefühle, Herzrasen, Panikattacken, Übelkeit und Reizdarm.

Für den Partner führt das Leben mit einem Bindungsphobiker nicht selten zu einem Teufelskreis: Je mehr sich der Betroffene zurückzieht, desto stärker versucht der Partner, ihn aus der Reserve zu locken. Das kann von diesem wiederum als Klammern aufgefasst werden, wodurch der Betroffene weiter auf Distanz geht. Die vergeblichen Bemühungen, den geliebten Menschen zu “retten” und dadurch zurückzugewinnen, können beim Partner sogar Depressionen auslösen. Der Zurückgestoßene stellt sich wahrscheinlich die Frage: Hat mein Gegenüber Bindungsangst oder kein Interesse? Oft folgt dann die Trennung, möglicherweise sogar eine Kontaktsperre – und dann der Neuanfang. Denn auch On-Off-Beziehungen sind typisch für Menschen mit Bindungsangst.

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Wie erkennt der Arzt Bindungsangst?

Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie unter Bindungsangst leiden. Sie rechtfertigen ihr Verhalten oftmals mit dem Wunsch nach Freiheit oder der Tatsache, einfach nicht den oder die Richtige(n) zu finden. Wer sich seine Probleme eingesteht und einen Psychologen oder Psychotherapeuten aufsucht, hat deshalb schon einen wichtigen Schritt getan.

Um festzustellen, ob der Betroffene wirklich Schwierigkeiten hat, sich auf feste Beziehungen einzulassen und um zu ermitteln, wie stark die Bindungsangst ausgeprägt ist, gibt es verschiedene Test-Fragen. Der Therapeut wird zum Beispiel wissen wollen, ob sein Patient ungern über seine Gefühle spricht, ob er viel Zeit allein verbringt und ob er die Familienplanung aufschiebt. Im Anschluss werden gemeinsam die Gründe für die Bindungsangst des Betroffenen erarbeitet.

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Wie wird Bindungsangst behandelt?

Hat der Patient seine Bindungsangst erkannt, stellt sich für ihn natürlich die Frage, was er dagegen tun kann. Die gute Nachricht lautet: Grundsätzlich ist es möglich, die Bindungsangst zu überwinden. Im Rahmen einer Psychotherapie kann der betroffene Mann oder die betroffene Frau lernen, persönliche Bedürfnisse zu formulieren und Nähe zuzulassen. Das Selbstverstrauen des Patienten wird gestärkt, wodurch dieser erkennen kann, dass er nicht perfekt sein muss, um Liebe zu “verdienen”. Nach und nach erfährt der Bindungsphobiker, dass eine feste Beziehung nichts Bedrohliches sein muss.

Es kann sinnvoll sein, den Partner in die Therapie miteinzubeziehen oder gemeinsam eine Paartherapie zu machen. Um dem Beziehungsphobiker die Bindungsangst zu nehmen, sollte der Partner möglichst wenig Druck ausüben und viel Verständnis zeigen. Richtiges Verhalten kann allerdings je nach Art und Ausprägung der Bindungsangst völlig unterschiedlich aussehen.

Hilfreich ist beispielsweise, dem Bindungsphobiker durch positive Erlebnisse aufzuzeigen, wie schön und erfüllend eine Partnerschaft sein kann. Dadurch gewinnt der Patient Vertrauen, ein Sicherheitsgefühl stellt sich ein. Darüber hinaus kann der Austausch mit anderen Betroffenen helfen, etwa in Online-Foren oder in einer Selbsthilfegruppe.

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Kann ich vorbeugen?

Bindungsangst als Erwachsener gezielt vorzubeugen, ist nicht möglich. Da der Grundstein für das spätere Beziehungsverhalten in der Kindheit gelegt wird, sollten Eltern versuchen, ihren Nachwuchs liebevoll zu erziehen, ohne diesen dabei zu stark einzuschränken. Denn sowohl ein unterkühlter Erziehungsstil als auch die viel zitierten “Helikoptereltern” können der Entwicklung des Kindes schaden.

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Wie sind die Heilungschancen?

Die Dauer der Therapie ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Sie hängt unter anderem von den Ursachen der Bindungsangst ab sowie von der Fähigkeit des Einzelnen, einen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen zu finden.

Wer sich für eine tiefenpsychologische Behandlung entscheidet, kann bei der Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Die Erfolgsaussichten sind relativ gut: Wenn der Patient regelmäßige Sitzungen in Anspruch nimmt und konsequent an sich arbeitet, kann er seine Bindungsangst überwinden.

Natürlich sind dadurch nicht alle Beziehungsprobleme wie von Zauberhand verschwunden – gelegentliche Reibungen sind schließlich gesund und völlig normal. Aber der Patient kann dank professioneller Unterstützung lernen, etwaige Krisen ohne destruktive Verhaltensmuster zu meistern.

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