Die Säure zerstört ihre Haut, entstellt ihr Gesicht, macht sie blind: Hunderte Frauen werden in Indien jährlich durch Attentate mit ätzenden Flüssigkeiten verletzt. Fünf Frauen, fünf Geschichten.

21.09.2017 19:38

Die Säure zerstört ihre Haut, entstellt ihr Gesicht, macht sie blind: Hunderte Frauen werden in Indien jährlich durch Attentate mit ätzenden Flüssigkeiten verletzt. Fünf Frauen, fünf Geschichten.

"Ich bin so stark wie mein Kaffee." Das handgeschriebene Schild hängt hinter dem Tresen an der Wand und wirft Fragen auf: Soll es den Frauen Mut machen, die im "Sheroes"-Café in Agra arbeiten? Oder richtet es sich an ihre Gäste, die neben Kaffee auch einen Einblick in die brutale Realität Indiens serviert bekommen?

Das Café wurde im Dezember 2014 eröffnet und liegt nur 400 Meter vom Taj Mahal entfernt. Die fünf Frauen, die hier Getränke bringen und Sandwiches toasten, sind alle furchtbar gezeichnet: Säureattentate haben ihre Gesichter entstellt. Den Frauen in die Augen zu schauen ist nicht leicht.

"Das Café gibt den Überlebenden eine Aufgabe, ein Leben zurück", sagt Atul Singh, einer der Freiwilligen von der Organisation "Stop Acid Attacks", die das Unternehmen gegründet hat. Viele der Säureopfer würden sich nach den Angriffen nicht mehr aus dem Haus trauen. "Nicht nur ihr Gesicht ist zerstört, sondern auch ihr Leben." Das Café gebe ihnen einen Raum, in dem sie sich für ihr Äußeres nicht schämen müssten.

"Es sind schon harte Bilder"

Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele Menschen in Indien Opfer von Säureangriffen werden. Pro Jahr 250, schätzt der Journalist Alok Dixit anhand von Medienberichten über einzelne Vorfälle. Die indische Selbsthilfevereinigung von Säureopfern geht von 100 bis 500 Fällen jährlich aus. Da es keine offiziellen Statistiken gibt, werden viele Fälle vermutlich nie erfasst. Laut einer 2013 von der Avon Stiftung veröffentlichten Studie sind fast drei Viertel der Opfer Frauen. Oft handele es sich bei den Tätern um abgewiesene Männer oder Mitglieder der Schwiegerfamilie der Frau, die sich wegen Streitigkeiten um die Mitgift rächten.

Um das Problem zu bekämpfen, hat Dixit 2013 die Kampagne Stop Acid Attacks ins Leben gerufen. Über Crowdfunding-Plattformen im Internet sammelte die Organisation umgerechnet 18.000 Euro, um das Café beim Taj Mahal zu eröffnen und einen Kalender zu produzieren, der betroffene Frauen zeigt.

Die Bilder des Delhier Fashion-Fotografen Rahul Saharan sind grausam und schön. Weil sie die entsetzlichen Verletzungen offen zeigen; weil sie den Lebenswillen der betroffenen Frauen festhalten. Ob sich der gerade veröffentlichte Kalender - man kann ihn auch online bestellen - gut verkaufen wird, wagt Singh nicht zu sagen: "Es sind schon harte Bilder. Wer weiß, wie viele Leute die sich täglich anschauen wollen."

Das große Problem sei, dass Säure in Indien trotz einer Gesetzesänderung durch das Oberste Gericht im vergangenen Jahr immer noch leicht zu kaufen sei, sagt Dixit. Er und seine Mitstreiter fordern eine stärkere Kontrolle der Kramläden, die Chemikalien als billige Reiniger anböten. Stop Acid Attacks verlangt auch, dass Säureattacken als gesonderte Verbrechensform registriert und zügig harte Strafen verhängt werden. Derzeit vergehen oft Jahre, bis die Täter überhaupt vor Gericht kommen, die Strafen fallen oft sehr milde aus.

"Ähnlich wie jüngst bei Vergewaltigungen sollen Gerichtsverfahren beschleunigt werden, damit die Opfer maximal nach drei Monaten ihre Angreifer hinter Gittern sehen", sagt Dixit. Zudem müsse der Staat die Opfer großzügig entschädigen, da sie lebenslange finanzielle Einbußen und enorme Behandlungskosten zu erwarten hätten.

"Früher haben sich die meisten Überlebenden aus Scham völlig zurückgezogen", sagt Aktivist Singh. Doch langsam stelle sich ein Wandel ein. 2012 trat die Betroffene Sonali Mukherjee unverschleiert bei der indischen Version von "Wer wird Millionär?" auf. Die Doktorandin der Soziologie hatte sich gegen die Avancen von drei Kommilitonen verwahrt und war daraufhin von ihnen angegriffen worden. Ihr Auftritt im Fernsehen - sie gewann umgerechnet 35.000 Euro - ermutigte auch andere Frauen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.

So wie jene fünf Frauen, die bei "Sheroes" arbeiten und im dort verkauften Kalender zu sehen sind.

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