Doppelleben: Ein Mann - zwei Familien

11.02.2019 13:43

Nur durch Zufall entdeckt eine verheiratete Frau und Mutter von zwei Kindern, dass ihr Mann noch eine weitere Familie hat, seit 15 Jahren. Gerade mal sieben Kilometer trennen die eine von der anderen. Die Geschichte eines Doppellebens

Es war eine unspektakuläre Szene, die meine Welt aus den Angeln hob. Ich studierte die Filmplakate am Kinoeingang, als ich meinen Mann in der Schlange am Kartenschalter entdeckte. Ich wollte zu ihm hingehen, den Vater unserer beiden Kinder umarmen, rufen: „Überraschung! Bin doch nicht weggefahren.“ Denn eigentlich hatte ich zu einer Freundin aufs Land fahren wollen.

Da bemerkte ich die Frau neben ihm, sah, dass ihre Hand in seinem Trenchcoat steckte. Selbstverständlich und vertraut. Es war kalt und regnerisch an diesem Tag. Ich brauchte einen Moment, um die Geste zu entschlüsseln, so abwegig erschien sie mir. Und dann ging ich, oder vielmehr: Ich rannte davon.

Später am Abend stand er vor mir in unserer Küche und sagte: „Ich werde dir jetzt etwas erzählen, was du nicht für möglich hältst.“ Ja, die Frau sei seine Geliebte. Seit 15 Jahren. Ihre beiden Kinder seien auch seine Kinder.

Ich hörte seine Worte, aber verstand nicht. Er hatte also nicht nur eine Affäre, er hatte eine zweite Familie, eine Schattenfamilie. Gibt es so ein Wort überhaupt? Sieben Minuten hat er gebraucht von einem Leben ins andere. Sieben Kilometer zwischen unserem Haus und ihrem. Sein Wagen kannte den Weg. Zwei Frauen, vier Kinder. Weihnachten, Ferien, Geburtstage, Geschenke: alles doppelt. In einem Leben zusammenzuhalten nur mit unzähligen Lügen.

Ich versuchte das, was er sagte, mit den Erinnerungen in Einklang zu bringen, die auf mich einstürmten und zu Zerrbildern wurden: unser Leben, die Hochzeit, die Geburt der Kinder, der Umzug in unser Haus – Glücksmomente und Alltag. Er starrte mich an, panisch, und flüsterte: „Sag doch was, schlag mich, bring mich um.“

Aber ich war gelähmt. Meine Welt zerbrach. Das klingt nach Schlagertext, aber es war so. Alles schwankte, kam ins Rutschen. Die Welt, in der ich mich zuvor sicher und geborgen fühlte, bot keinen Halt mehr.

Mein Mann hat eine Schattenfamilie gegründet, ein Doppelleben geführt – und damit meines ungültig gemacht. Alles, was ich bis dahin gefühlt und getan hatte, beruhte also auf falschen Annahmen. Ich dachte, unsere Ehe sei glücklich. Wenig Streit, viel Vertrauen, kaum Eifersucht. Ich wollte keine Frau sein, die klammert, ließ ihn ohne Argwohn tagelang verreisen. Als Keyboarder musste er nun einmal unterwegs sein. Seine Arbeit fand ich wichtig und interessant.

Der Mann hat zwei Söhne mit der einen Frau, einen Sohn und eine Tochter mit der anderen. Drei der Kinder gehen auf die gleiche Schule

War unsere Liebe am Ende nur eine Lüge?

Was jetzt für mich begann, glich der Arbeit einer Archäologin. Ich musste die Vergangenheit freilegen, rekonstruieren. Es galt, jedes Detail meiner Erinnerung neu zu bewerten. Ich blätterte in Fotoalben, betrachtete die Bilder aus Paris, auf denen wir so verliebt in die Kamera glotzen, rechnete nach: Ja, da hatte es die Schattenfamilie schon gegeben. Ihre Abendessen am Familientisch, ihre gemeinsamen Nächte.

Auch als mein Vater starb und mein Mann mir die Hand hielt, gab es sie. Als unsere Söhne konfirmiert wurden, gab es sie. Er kam beide Male erst spätabends zur Feier. Herbeigeeilt von einer Tournee, wie ich glaubte.

Damals hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Jetzt fragte ich mich: Was war wohl wichtiger als unsere Familienfeiern? Seine heimliche Tochter war damals ungefähr fünf Jahre alt. Hatte sie Zahnweh und brauchte Papas Trost? Hatte ihre Mutter Dienst, und er musste babysitten

Und als ich meine schwere Operation hatte und er nur kurz im Krankenhaus vorbeischaute, nervös, kreidebleich, da dachte ich: Er ist so sensibel. Tatsächlich aber saß er wohl einfach auf heißen Kohlen. Musste zu den anderen. Gedanken dieser Art sind zermürbend, höhlen einen aus. Ungeheuerlich immer aufs Neue die Erkenntnis: Ich hatte ihn nur wenige Jahre für mich.

Wir kamen schon als Teenager zusammen. Bei der Heirat war ich 18, er 21. Drei Jahre später hatten wir zwei Söhne. Er gründete das Quartett, mit dem er durch die Welt zog und unseren Lebensunterhalt verdiente. Zumindest einen Teil davon. Ich arbeitete in einem Sanitärbetrieb. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung. Eine ganz normale Familie.

Zugegeben: Die Ehe lief nicht immer gut

Doch in jener Zeit lernte er die andere Frau kennen und bekam mit ihr einen Sohn und eine Tochter. Die Andere kannte die Wahrheit, sie hat mich bei seinen Auftritten gesehen. Ihre Kinder aber wurden ebenso getäuscht wie ich: Die Kleinen glaubten, dass der Papa auf Tournee sei, wenn er nicht bei ihnen war. In Wahrheit war er bei mir und unseren Söhnen.

Unsere Familie: ein Dienst? Und die andere: die Kür? Oder umgekehrt? Warum? Wie konnte das passieren? Die Antwort ist erschütternd schlicht. Als er die andere Frau kennenlernte, herrschte in unserer Ehe gerade Flaute. Mich überforderten unsere beiden kleinen Söhne, ständig war die Schwiegermutter im Haus. Ich habe funktioniert und auf bessere Zeiten gewartet.

Er aber, so glaube ich, hat sich sehr einsam gefühlt. Die Andere sprach ihn nach einem Auftritt an. Bühnenmenschen passiert so etwas. Sie tranken ein Bier, dann war es spät und er fuhr sie nach Hause. Er hat sich nicht viel dabei gedacht, aber sie rief ihn immer wieder an.

Und er ließ sich immer wieder darauf ein. Als sie schwanger war, habe er getobt, sagte er. Aber als das Neugeborene dann da war, war es nun mal: sein Kind. Ebenso das zweite. Genau wie unsere beiden Söhne.

Wenn der Mann, ein Musiker, zu seiner zweiten Familie fährt, erzählt er der Ehefrau, er trete mit seiner Band auf. Nur wenige Minuten braucht er von einem Leben in das andere

Ich glaubte in jener Zeit, er arbeite einfach viel. Künstler können es sich nicht aussuchen, dachte ich. Und wenn wir dann mal zusammen waren, wollte ich es schön haben. Keinen Stress machen. Wir waren immer glücklich, wenn wir Zeit für uns hatten. Und Zeit haben, das hieß: zwei, drei Tage. Dann war er schon wieder fort.

„Bin bis Montag in Kiel“, sagte er. Oder in Rostock. Oder Mönchengladbach. „Fahr vorsichtig. Und ruf an, wenn du da bist!“ Er rief an, erzählte vom Applaus, vom schlechten Hotelbett, vom Stau auf der Autobahn. Wie hat er das gemacht? Erst ausgerechnet, wie lange man für die Strecke braucht und dann zum Telefonieren ins Bad?

An Feiertagen hatte er immer besonders viel zu tun. Jahr für Jahr saß ich Heiligabend mit den Kindern bei meiner Mutter, ohne ihn, bis er gegen halb zehn erschien. Abgehetzt, nachdem er angeblich bei fremden Familien den Weihnachtsmann gespielt hatte. Gegen gute Bezahlung, wie er sagte.

Ich habe nicht gefragt, wie viel es denn wert sei, dass wir mit der Bescherung so lange warten, den Braten ohne ihn essen mussten. Ich wollte nicht kleinlich sein. Auch fuhr er mit beiden Familien in Urlaub. Wir hatten oft nur wenige Tage mit ihm am Ferienort, dann war der nächste Auftritt dran und ich blieb, wie immer verständnisvoll, mit den Kindern zurück.

War ich blind? Ahnte ich wirklich nichts? Nein. Nichts. Irgendwann fiel mir immerhin auf, dass wir zu wenig Geld hatten – gemessen daran, wie viel er angeblich arbeitete. Ich sagte: Entweder wir müssten mehr Geld haben oder mehr Zeit füreinander.

Er murmelte nur: „Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig das alles ist.“ Statt mich zu wundern, schämte ich mich: Er rackerte sich ab, war immer müde, und ich mit meinem Bürojob mischte mich ein.

Seltsame Dinge habe ich gedacht, damals. Beispielsweise glaubte ich insgeheim, dass Frauen, die von ihren Männern betrogen wurden, selbst daran schuld seien. Außerdem war ich überzeugt: Eine Frau muss ein Geheimnis haben. Das hat meine Oma immer gesagt – eine Weisheit aus UFA-Film-Zeiten. Ich habe meinen Mann geliebt wie niemanden sonst auf der Welt. Das war mein Geheimnis.

Zeigen konnte ich es ihm nicht. Denn Hingabe hielt ich für ein Zeichen von Schwäche.

Er lernte zu lügen. Wurde zum Großmeister in Sachen Koordination und Täuschung. Die Lügen mussten möglichst nah an der Wahrheit liegen, das machte es einfacher, sie auch ein halbes Jahr später zu rekonstruieren.

Frage: Wie war es in Kiel? Antwort: Toll! Das musste er sich merken: Kiel war toll. Ein großer Teil seiner Kraft ging in die Konstruktion und Absicherung dieser Lügen, die er ständig ausbauen musste.

„Meinst du, das habe ich zum Vergnügen gemacht?“ Der Satz traf mich. Nicht zum Vergnügen? Ja, weshalb hat jemand denn sonst zwei Frauen? Bei ihr konnte er ein anderer sein, sagte er.

Was für ein anderer? Weniger angestrengt, weniger bemüht, alles richtig zu machen. Dort war er Überraschungsgast, sein Erscheinen ein Fest. Da brät man schon mal ein Huhn um Mitternacht – ohne hinterher abzuspülen.

Die Geliebte war es gewohnt, manchmal die Gegenwart der Ehefrau ertragen zu müssen, wenn wir beide bei einer Veranstaltung von ihm waren. Er begrüßte immer viele Leute, auch sie. Ich dachte mir nichts dabei.

Doch wie sollte sie ihren Kindern erklären, wer die fremde Frau war, die ihren Vater hinter der Bühne besuchte? Die sich so benahm, als gehörte sie zu ihm? Die Zeitbombe tickte.

Seine Tochter ging auf das Gymnasium, das auch unsere Söhne besuchten. Die Kinder hätten bei jedem Schulkonzert entdecken können, dass sie denselben Vater hatten; dass sie also Halbgeschwister sind.

Alles lief auf Entdeckung hinaus. Vielleicht hat er es unbewusst sogar provoziert, weil der Druck zu groß wurde. Ihre Hand in seinem Trenchcoat – das wäre ihnen zu Beginn wohl nicht passiert.

In den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch meines Lebens bekam ich Besuch wie eine Kranke. Die Sensiblen schwiegen, die Wütenden beschimpften „das Schwein“.

Er floh zu seiner Mutter, der dritten wichtigen Frau in seinem Leben. Die Frau, die alles versteht, aber nichts kapiert. Die, die zu ihm steht, egal, was passiert. So sind Mütter. Und Söhne auch. Als ich unseren ältesten Sohn fragte, wie es ihm jetzt gehe, antwortete er: „Hauptsache, du kommst klar.“ Und er fügte hinzu: „Papa hoffentlich auch.“

Im ersten Moment war ich enttäuscht. Wie konnte er diesen Vater noch lieben? Aber mit der Zeit breitete sich ein anderes Gefühl aus: Wenigstens etwas, das Bestand hat. Nach Monaten der Selbstzerfleischung wusste mein Mann, dass er mich wollte. Nur mich. Und ich wusste, dass ich uns noch eine Chance geben wollte. Ich konnte nicht anders. Es gab keinen Stolz mehr. Nur Liebe, wenn auch eine verratene.

Jetzt endlich wollte ich ihn kennenlernen, meinen Mann. Es wurde eine grausam schöne Zeit. So viel Zeit hatten wir vorher nie, sind essen gegangen oder spazieren, haben geredet und uns erinnert, was wir mal gewollt hatten: uns nie wehtun. Eins sein gegen den Rest der Welt. Als Familie zusammenstehen.

Er sagte die drei Worte, die bei uns nie inflationär gebraucht worden waren. Und ich glaubte ihm. Wenn wir miteinander schliefen, war es aufregender als je zuvor. Weil er so fremd war.

Mein Herz klopfte, wenn ich sein Auto auf die Einfahrt einbiegen sah, mein Magen krampfte, wenn er sich verspätete. Doch zum ersten Mal klangen seine Erklärungen echt: Da war eine Birke umgefallen, quer über die Straße, und die musste zersägt werden. So etwas hätte er sich in den Jahren zuvor nicht ausgedacht.

Er besuchte die andere Familie weiterhin. Doch ich wollte ihm glauben, dass die Liebesbeziehung beendet war und die Frau keine Rolle mehr spielte. Dass er nur zu seinen Kindern wollte, sich weiter verantwortlich fühlte. Die Frau liebe er nicht. Das hörte ich gern. Dabei war ja auch das Verrat, wie ich heute weiß. Nach 15 gemeinsamen Jahren ließ er sie einfach fallen. Hätte es nicht genauso gut mich treffen können?

Die andere Familie trat aus dem Schatten. Bald gingen unsere Söhne auch dort ein und aus. Die Halbgeschwister verstanden sich gut, seine Tochter war begeistert von ihren großen Brüdern. Auch meine Schwiegermutter interessierte sich für die neuen Enkel.

Die Verdoppelung der Familie funktionierte für alle ganz gut. Nur für seinen Jüngsten nicht: Papa hat eine Frau? Wieso? Er hat doch Mama! Und für mich funktionierte sie auf Dauer auch nicht.

Dann der Gedanke: Ich werde ihm nie vertrauen können

Fuhr mein Mann zum Schulkonzert seiner Tochter, holte er seine Ex-Geliebte vorher ab. Gemeinsam besuchten sie die Veranstaltung, als Elternpaar. Sein Mädchen war der Star am Flügel. Ich habe versucht, mich mit ihm zu freuen, die Schattenkinder anzuerkennen als Teil von ihm. Sie sogar gern zu haben, sie konnten doch nichts dafür!

Manchmal wusste ich sie alle gemeinsam auf einem Konzert, und ich saß zu Hause mit einer Flasche Wein. Da dachte ich: Vorher war es besser.

Und dann setzte sich der Gedanke fest: Es wird nie aufhören. Ich werde ihm nie vertrauen können. Lange habe ich darum gekämpft, Vergebung in mir zu finden, mehr Akzeptanz für die zweite Familie, mehr Klarheit der Verhältnisse. Ich suchte nach einem letzten Beweis dafür, dass ich ihm vertrauen kann. Doch den gab es nicht.

20 Jahre Ehe, davon etwa 15 Jahre mit einer Schattenfamilie: Es war, als sei an jenem Abend am Kinoschalter eine Wunde aufgebrochen, die nicht mehr heilen konnte.

Die Fremdheit zwischen uns blieb. Als er mich bat, bei einem Jubiläum mit der Anderen am selben Tisch zu sitzen, habe ich ihn hinausgeworfen. Nach fünf Jahren Hin und Her habe ich die Scheidung eingereicht. Ein Leben war zu Ende. Aber es ging weiter. Natürlich.

Gut, dass alles so gekommen ist

Ich habe inzwischen mehr davon verstanden, was diesen Mann zu seiner Lebenslüge getrieben hat: Er kann nicht Nein sagen. Das macht ihn liebenswert und unehrlich zugleich. Er ist sich selbst nicht viel wert und suchte deshalb Sicherheit. Zwei Frauen erschienen sicherer, zwei Familien behaglicher als eine.

Heute tut er mir leid. Er hat wieder eine neue Familie, eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern, die nichts von seiner Geschichte weiß. Aber das geht mich nichts mehr an. Auch ich habe ein neues Leben. Mit einem Freund aus Jugendzeiten. Schon damals hatten wir uns gemocht, doch er war vergeben, ich verheiratet, und Treue war uns wichtig.

Wir haben seither unsere Kinder großgezogen, unsere Fehler gemacht, sind älter geworden. Jetzt sind wir frei füreinander. Und miteinander. Neuerdings habe ich manchmal einen Gedanken, der mich selbst überrascht: Gut, dass alles so gekommen ist.

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