Eine unfassbare Diffamierung : So bewertet die Presse Merz Sozialtourismus -Vorwurf an Ukrainer

29.09.2022 13:00

Friedrich Merz hat ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland "Sozialtourismus" vorgeworfen – und sich dann dafür entschuldigt. In den Kommentarspalten der Presse reichen die Reaktionen darauf von "hochgradig geschmacklos" bis "ein typischer Merz".

Friedrich Merz hat mit seiner Bezeichnung ukrainischer Flüchtlinge als Sozialtouristen für mächtig Wirbel gesorgt. Politiker und Politikerinnen von SPD, FDP, Grünen und sogar aus der Union selbst kritisierten die Äußerungen des Partei- und Fraktionschefs der CDU. Merz hatte am Montagabend in einem Interview gesagt: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine." Der Hintergrund dafür ist seiner Meinung nach, dass Ukraine-Flüchtlinge seit Juni Grundsicherung erhalten, also die gleichen Leistungen wie etwa Hartz-IV-Empfänger, und damit etwas besser als Asylbewerber gestellt sind.

Eine Jury von Sprachwissenschaftlern hatte den Begriff "Sozialtourismus" im Jahr 2013 zum "Unwort des Jahres" bestimmt. Zur Begründung hieß es damals, er "diskriminiert Menschen, die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu".

Am Dienstag bedauerte Merz seine Wortwahl als "eine unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems", erklärte aber auch, dass er den Begriff bewusst verwendet habe: "Also das ist nicht rausgerutscht. Das ist eine Formulierung, die mir im freien Interview so in der Tat über die Lippen gekommen ist", sagte er, und betonte, er habe lediglich auf zunehmende Probleme mit der Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen hinweisen wollen. Das es sich bei seinen Aussagen zwei Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen um ein Wahlkampfmanöver handele, dementierte der CDU-Vorsitzende.

So kommentiert die Presse den "Sozialtourismus"-Vorwurf von Friedrich Merz

"Schwäbische Zeitung" (Ravensburg): "Friedrich Merz hatte im Jahr 2013 wohl Besseres zu tun, als sich um Wörter oder Unwörter des Jahres zu kümmern. Sonst hätte er mit Sicherheit mitbekommen, dass der Begriff 'Sozialtourismus', bezogen auf Kriegsflüchtlinge, problematisch ist. Wer sich an den Besuch des CDU-Vorsitzenden in der zerstörten ukrainischen Stadt Irpin erinnert, ist einigermaßen fassungslos über seine Aussagen. Auch seine nachgereichte Entschuldigung lässt ihn kaum besser aussehen. Jetzt ist es ja nicht so, dass Missstände, auch wenn es um Kriegsflüchtlinge geht, nicht benannt werden sollten. Doch mit seiner Wortwahl hat Merz Hunderttausende Menschen unter Generalverdacht gestellt. Seiner Partei hat Merz einen Bärendienst erwiesen. Da müht sich die CDU, ein neues, moderneres Bild von sich zu zeichnen – und der Chef greift derweil auf ein Wort zurück, das schon vor Jahren durchfiel. Das scheint all jenen Recht zu geben, die daran Zweifel haben, ob Merz wirklich so progressiv ist, wie er glauben machen will."

"Südwest-Presse" (Ulm): "Ein typischer Merz, mal wieder. Nachdem der CDU-Chef mit Bezug auf ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland von 'Sozialtourismus' gesprochen hat, ist die Entrüstung groß – zu Recht. Der alte Populisten-Verdacht ist zurück, und schuld daran ist Merz allein. Den Vorwurf, es mit der uneingeschränkten Solidarität mit der Ukraine offenbar nicht wirklich ernst zu meinen, wird nun die gesamte Union so schnell nicht loswerden."

"OM-Medien" (Vechta/Cloppenburg): "Es ist kein gemeinhin geläufiger Begriff. Er rutscht einem deshalb auch nicht mal eben aus Versehen über die Lippen. Schon gar nicht einem Spitzenpolitiker, der für sich den Anspruch erhebt, die Regierungsgeschäfte übernehmen zu wollen. Bereits während des Interviews blieb Merz die Belege für seine Feststellung schuldig. Die darauf folgende Empörung war groß. Merz rudert zurück. Schlagzeile geschafft. Es wirkt wie Kalkül. Einen solchen Politik-Stil kennt man eigentlich nur von einer anderen Partei, abseits der parlamentarischen Mitte. Und es ist auch eben jene Partei, die mit zynischen Wortkreationen – regelrechten Unwörtern – Effekthascherei betreibt. Von einem CDU-Vorsitzenden sollte man mehr erwarten dürfen."

"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Durch ein halbherziges Sorry unter Vorbehalt macht Merz seine Entgleisung nicht vergessen. Wenige Tage vor der Wahl in Niedersachsen kramt er in der untersten Populismus-Schublade. Wenn seine Strategie, die AfD zu halbieren, so aussieht, kann die Republik gut darauf verzichten. Sollte es ein Problem mit Sozialmissbrauch durch Ukrainer geben, sollte die CDU Zahlen und Fakten vorlegen und Vorschläge machen, was dagegen zu tun ist. Merz jedoch diffamiert und diskreditiert die Flüchtlinge in einer Zeit, in der sich die Lage in ihrer Heimat durch die russischen Scheinreferenden zuspitzt."

"Westfälische Nachrichten" (Münster): "Was heißt hier 'Sozialtourismus'? Wer einmal mit geflüchteten Müttern gesprochen hat, kennt ihre herzzerreißenden Abwägungen: Sollen sie eine Reise in die Ukraine wagen, damit Kinder ihre dort kämpfenden Väter zu Gesicht bekommen? Oder sollen sie doch lieber in der sicheren Fremde bleiben? Das Stichwort Urlaub für den Ausnahmezustand zwischen Schlaflosigkeit, Schicksalsschlägen und Ratlosigkeit ist eine unfassbare Diffamierung. Deutschland hat sich bewusst entschlossen, den Ukraine-Geflüchteten besondere Rechte und die Grundsicherung einzuräumen. Sie sollten weiter vor allem auf eins zählen können: unsere Solidarität."

"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": "Wer sich so viel auf sein angebliches rhetorisches Geschick einbildet wie der Sauerländer, darf sich nicht wundern, wenn er an seinen Worten gemessen wird. Und ein populistischer Dampfplauderer als Kanzler ist sicher nicht das, was die Bürger sich in Krisenzeiten wünschen."

"Reutlinger General-Anzeiger": "Merz hat der CDU einen Bärendienst erwiesen. Die Rede vom 'Sozialtourismus' ukrainischer Kriegsflüchtlinge wird seine Partei bei konservativen und Wechselwählern Stimmen kosten. Zwei Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen kommt der Ausrutscher zur Unzeit. Doch die Stimmen, die eine Sogwirkung des deutschen Sozialstaats fürchten, mehren sich. Das Problem ist bekannt: Im europäischen Vergleich zahlt Deutschland gut und ist darum bei Migranten besonders beliebt. Das ist kein Vorwurf an den einzelnen Einwanderer. Doch wenn viele sich so entscheiden, überfordert das die Aufnahmegesellschaft. Darüber muss geredet werden. Aber in sachlichem Ton, ohne populistische Schlagworte."

"Der Populist schlummert immer noch in Friedrich Merz. Schade."

"Pforzheimer Zeitung": Gut möglich, dass Merz mit seiner Aussage schlicht polarisieren wollte. Und zwei Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen vielleicht auch ein wenig am rechten Rand fischen. Das ist schäbig – und instinktlos. Das zeigt schon der Sturm der Entrüstung, der völlig zu Recht über Merz hereinbrach und mit dem er offenbar nicht gerechnet hatte. Seit seiner Wahl zum Parteichef ist der Sauerländer sichtlich bemüht, sein früheres Image als Haudrauf zu korrigieren und sich als Staatsmann zu präsentieren. Bislang eigentlich mit Erfolg. Dieses Bild hat nun aber gewaltige Risse bekommen. Und gezeigt: Der Populist schlummert immer noch in Friedrich Merz. Schade."

"Hannoversche Allgemeine Zeitung": Merz will die CDU wieder zur führenden Volkspartei der Mitte machen, hat aber seine eigene Mitte noch nicht gefunden. Das reicht nicht aus für jemanden, der sich zutraut, im Fall der Fälle das ganze Land zu führen. Wenn Merz sich als den künftigen Kanzler sieht, muss er an inhaltlicher Substanz und Beständigkeit noch kräftig zulegen."

"Stuttgarter Zeitung": "In der Sache hat Merz auf ein Kontrolldefizit hingewiesen, das es faktisch gibt: Niemand weiß, wie viele der in Deutschland registrierten Kriegsflüchtlinge bereits zurückgekehrt sind. Ob es sich dabei um 'Sozialtourismus' handelt, ist eine andere Frage. Diese Menschen sind von Putins brutaler Gewalt getrieben. Wer mag es ihnen verübeln, wenn sie in die Heimat zurückkehren, vielleicht um Dokumente zu besorgen oder sich um Verwandte zu kümmern? Wie weit wir das mit Sozialhilfe unterstützen sollten, bedürfte noch der Klärung."

"Badische Neueste Nachrichten (Karlsruhe): "Merz’ Spruch vom 'Sozialtourismus' ukrainischer Flüchtlinge war hochgradig geschmacklos. (...) Dennoch hat Merz’ grobe Bemerkung – deren Wirkung er angeblich bedauert – einen ernsten Hintergrund. Und darüber muss diese Gesellschaft dringend diskutieren. Dass ukrainische Kriegsflüchtlinge mehr Geld erhalten als Asylbewerber, mag gut gemeint sein, aber diese humane Geste zieht ernste Probleme nach sich. Sie setzt einen großen Anreiz, Notunterkünfte in Polen und anderen hilfsbereiten Ländern zu verlassen und nach Deutschland weiterzuziehen – voll falscher Hoffnungen. Seit Wochen setzen Bürgermeister ihre Hilferufe ab und warnen davor, dass angesichts der Wohnungsnot die Stimmung bei der Bevölkerung kippt. (...) Über die Frustration dieser Menschen kann Berlin nicht einfach hinwegsehen. (...) Mancher Ukrainer wird morgen eine begehrte Arbeitskraft in Deutschland sein, sicher. Dennoch muss die Regierung den Andrang der Hilfesuchenden klüger regeln."

"Münchner Merkur": "Das war von Merz ein grober Schnitzer – unter seinem Niveau, auch nicht zu seiner bisher konsistenten Ukraine-Linie passend. Ärgerlich ist das doppelt, denn es lähmt eine andere Debatte, die eigentlich sorgfältig geführt werden müsste. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Ampel-Regierung nimmt tatsächlich Fehlanreize in Kauf, nicht nur, aber auch bei Migranten. Auch abgelehnte Asylbewerber sollen Leistungen weit oberhalb der Flüchtlingshilfen bekommen, gleichzeitig streicht die Ampel in vertrauensseliger Dusseligkeit Sanktionsmöglichkeiten für Arbeitsunwillige. Das passt nicht. Statt darüber zu reden, wütet nun alles über Merz. Das bringt uns keinen Meter weiter."

"Frankenpost" (Hof): Der CDU-Chef hat sich rasch entschuldigt; in ohnehin aufgeheizter Debatte hatte er aus der Ukraine geflüchteten Menschen 'Sozialtourismus' vorgeworfen. Das Unwort des Jahres 2013, damals bezogen auf andere Geflüchtete, hätte er besser nicht in den Mund genommen. Aber, er spricht einen längst begonnen habenden Stimmungswandel in der deutschen Bevölkerung an. Anfangs wurden die Kriegsflüchtlinge, vor allem die vielen Frauen und Kinder, mit offenen Armen begrüßt. Inzwischen wächst mit den eigenen Inflations- und Existenzsorgen das Unbehagen: Schaffen wir das?"

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