Gefangen in der Todesspirale – wie Erdogan die türkische Lira entwertet

24.11.2021 09:20

Die türkische Lira verliert massiv an Wert. Das liegt vor allem an Präsident Erdogan, der die Talfahrt des Geldes absichtlich beschleunigt – mit verheerenden Folgen für das Land.

Der Wert der türkischen Lira sinkt seit Monaten – an diesem Dienstag aber brach die Währung in der Türkei regelrecht ein. Auslöser waren Aussagen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan – wieder einmal.

Für Erdogan kann die Lira nicht schwach genug sein, so scheint es. Ihr geringer Wert ist nach seiner Vorstellung gut für das Land und seine Wirtschaft. Niedrige Zinsen sollen Kredite und Investitionen ankurbeln und den Export stärken, weil das Ausland dann Waren günstig in der Türkei einkaufen kann. Je schwächer die Währung, desto stärker das Wirtschaftswachstum, so das Credo des Präsidenten. Und umso größer seine Chancen, im übernächsten Jahr wiedergewählt zu werden.

Türkische Lira verliert an Wert – Waren in der Türkei werden teurer

Doch Experten warnen inzwischen vor den Gefahren dieser massiven politischen Einmischung in Währungsfragen. Ihre These: der politische Druck auf die Notenbank untergrabe das Vertrauen in die Wirtschaft der Türkei und schade ihr damit. Schon seit Längerem ist der Wertverlust der Lira ein kontroverses Thema im Land. Denn Importe werden teurer, ebenso wie Öl und Gas. Die Inflation zieht an, das Leben in der Türkei wird teurer.

Doch Erdogan bleibt bei seiner Politik, alle paar Wochen oder sogar Tage den Wert der Lira weiter nach unten zu drücken. In seiner aktuellen Rede forderte er eine "wettbewerbsfähige" Lira, wie er sich ausdrückte. Ein noch schwächerer Wechselkurs solle die Investitionstätigkeit beflügeln und Arbeitsplätze fördern, bekräftigte er.

Lira bricht nach Rede des Präsidenten ein

Die Reaktion der Lira kam prompt. Die Währung sank am Dienstag im Verhältnis zum US-Dollar und zum Euro auf Rekordtiefstände. Gegenüber dem Dollar betrugen die Tagesverluste zeitweise zehn Prozent. Der Dollar stieg im Gegenzug erstmals über zwölf Lira. Der Eurokurs stieg auf 14,06 Lira.

Bereits in den vergangenen Wochen war die Währung der Türkei – politisch gewollt – immer wieder unter Druck geraten und stetig gesunken. Allein in diesem Monat hat die Lira gegenüber Dollar und Euro rund ein Viertel ihres Wertes verloren. Am Montag hatte Erdogan die jüngsten drastischen Zinssenkungen verteidigt und bekräftigt, er werde einen "wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg" zum Trotz seiner Kritiker gewinnen. Auch nach diesen Worten hatte es einen massiven Kursrutsch gegeben.

Präsident Erdogan will die Wirtschaft mit allen Mitteln ankurbeln

Erdogan setzt die Lira-Schwäche mit Wirtschaftswachstum gleich. Tatsächlich erreicht die Türkei aktuell Wachstumsraten zwischen geschätzt etwa sechs bis neun Prozent – was angesichts der weltweiten Coronakrise als beachtlich gilt. Doch das Wachstum sei trügerisch, ungesund und sehr teuer erkauft, wie viele Fachleute meinen.

Schon vor gut drei Jahren hatte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman gewarnt, die türkische Wirtschaft könne in eine "Todesspirale" geraten. Er hielt es damals für extrem gefährlich für das Land und dessen Wohlstand, dass die Unabhängigkeit der heimischen Notenbank politisch so massiv angegriffen wird. Wie es scheint, behielt er mit seiner Warnung recht.

Denn die Auswirkungen des Teufelskreises aus abwertender Währung und steigender Inflation sind inzwischen überall im Land zu spüren, wie man in zahlreichen Medienberichten liest. Die Preise für Waren und Energie steigen stetig und massiv an – schon jetzt ist die Verteuerung des täglichen Lebens für viele Bürger im Land schwer zu kompensieren. Die Lebenshaltungskosten gelten als kaum noch tragbar für einen Großteil der Bevölkerung, die Inflationsrate gehört zu den höchsten weltweit. Da viele Unternehmen zudem in US-Dollar oder Euro verschuldet sind, wird es für sie immer schwieriger, Kredite zurückzuzahlen.

Notenbanker müssen gehen, wenn sie nicht kooperieren

Erdogan hatte zuletzt dafür gesorgt, dass immer wieder Notenbanker gehen mussten, deren Geldpolitik er missbilligte. Der aktuelle Notenbankchef Sahap Kavcioglu amtiert seit März – er ist der vierte Chef der Institution seit 2019. Seine Vorgänger schieden aus dem Amt aus, weil sie Erdogans Kurs der lockeren Geldpolitik nicht unterstützen wollten.

Auch Vize-Zentralbankchef Semih Tumen flog im vergangenen Monat raus. Er ließ die aktuellen Entwicklungen aber nicht unkommentiert und forderte eine sofortige Rückkehr zu einer Politik, die den Wert der Lira schützt. "Dieses irrationale Experiment, das keine Aussicht auf Erfolg hat, muss sofort aufgegeben werden, und wir müssen zu einer Qualitätspolitik zurückkehren, die den Wert der türkischen Lira und den Wohlstand des türkischen Volkes schützt", twitterte Tumen.

Doch das sind inzwischen wohl unerfüllbare Wünsche. Denn die Notenbank tut genau das, was der Präsident will. Zuletzt senkte sie am vergangenen Donnerstag nach Erdogans Druck die Leitzinsen. Während die Inflationsrate bei fast 20 Prozent liegt, wurde der Leitzins auf 15 Prozent verringert. Die Lira reagierte auch hierauf mit Kursverlusten.

Das internationale Echo auf diese Zinssenkung war verheerend. Analyst Timothy Ash von Bluebay Asset Management nannte beispielsweise die Entscheidung der Notenbank "lächerlich". Sie sei "wirklich gefährlich für die Lira und für die Türkei", zitierte die Nachrichtenagentur AFP den Experten.

Nächste Zinssenkung vermutlich schon im kommenden Monat

Es war auch bereits die dritte Leitzinssenkung in weniger als zwei Monaten. Im Dezember dürfte schon die nächste folgen, wie bereits in Aussicht gestellt wurde. Erdogan vertritt entgegen der geltenden Lehre die Meinung, dass es in Wirklichkeit hohe Zinsen seien, die die Inflation anheizen.

Dass die Notenbank dem Druck des Präsidenten widersteht, gilt auch deshalb als unwahrscheinlich, weil inzwischen offen gefordert wird, dass ihre Unabhängigkeit ein für alle Mal endet. "Unabhängige Institutionen können nicht über dem Willen des Volkes stehen", sagte Devlet Bahceli, der Chef der nationalistische Partei MHP, die Teil der Regierung Erdogan ist. "Die Türkei soll frei von der Zinsbelastung sein." Zudem forderte er, dass sich die Türkei dem Internationalen Währungsfonds und der "Zinslobby" entgegenstelle.

Auch diese Aussagen dürften das Vertrauen in die Lira und die türkische Wirtschaft schwächen. Die "Todesspirale dürfte sich also künftig nur noch schneller drehen.

 

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