Gilles de Rais: Einer der schlimmsten Serienmörder der Geschichte ist ein Ritter

18.12.2018 14:25

Welch nahezu unantastbare Macht Ritter über ihre Untertanen haben, zeigt der Fall des Franzosen Gilles de Rais. Um 1432 beginnt der Adelige, der einst an der Seite von Jeanne d’Arc gekämpft hat, Kinder aus sadistischer Lust zu foltern. Über die Jahre quält er weit mehr als 100 Opfer zu Tode. Und keiner der Angehörigen wagt es, sich ihm entgegenzustellen

Im 15. Jahrhundert ist Frankreich ein Land des Todes: Englische, französische und burgundische Ritter bekämpfen sich in Schlachten, Banditen plündern Landstriche leer, der Schwarze Tod frisst Tausende. Doch der grauenhafteste Ort in diesen grauenhaften Zeiten ist eine bretonische Stadt, die für kein Schlachtfeld, keine Banden, keine Pestepidemie bekannt wird – eine Stadt, in der bloß ein einziger Mörder nach Opfern sucht.

Dieser Mörder aber holt sich seine Opfer Tag um Tag und Jahr um Jahr, und niemand kann ihn aufhalten.

Im bretonischen Machecoul leben vielleicht ein paar Hundert Menschen. Gut zehn Kilometer entfernt brandet im Westen der Atlantik, etwa 40 Kilometer nord­ostwärts liegt Nantes, der einzig be­deutende Ort dieser Region. Die Häuser von Machecoul liegen im Schatten der Mauern und des wuchtigen Turms einer Burg.

Irgendwann um 1432 – später wird sich niemand mehr genau an das Datum erinnern können – schickt in Machecoul der Kürschner Guillaume Hilairet seinen zwölf­jährigen Lehrjungen zu einem Botengang in diese düstere Burg. 

Niemand sieht den Jungen danach je wieder.

Gilles de Rais: Das Monster von Machecoul

In der Festung residiert Gilles de Rais, ein Ritter und Marschall von Frankreich, Waffenbruder der hoch verehrten Jeanne d’Arc, Held des Hundertjährigen Krieges, Befehlshaber einer Privatarmee, Herr über Ländereien und damit auch über all die Menschen, die dort leben.

Nichts also kann man tun – außer zu schweigen und sich zu fürchten vor dem Monster von Machecoul.

So beginnt, mit verschwundenen Jungen und terrorisierten Eltern, eine Mordserie wie wohl keine zweite in der Geschichte. Gilles de Rais tötet Kinder so regelmäßig, wie andere Leute Brot essen – sieben, acht Jahre lang, fast ohne Innehalten. Niemand fällt ihm in den Arm, obwohl Gerüchte durch das Land wehen. Bis sich der Ritter in hochmütiger Brutalität schließlich selbst zu Fall bringt. 

Erst dann werden ihm Richter und Inquisitoren den Prozess machen – es wird eines der spektakulärsten Verfahren des Jahrhunderts, mit schluchzenden Zeugen, grauen­haften Enthüllungen, theatralischen Geständnissen und spektakulären Hinrichtungen. 

Doch selbst der klügste Inquisitor vermag die entscheidenden Fragen niemals zu klären: Wer ist dieser Gilles de Rais? Und warum tat er, was er tat?

Einen Tag nachdem die Eltern des Verschwundenen laut über ihren Verlust geklagt haben, lässt Jean Roussin seinen neunjährigen Sohn zum Hüten der Tiere aufs Feld gehen. Ein Nachbar beobachtet, wie das Kind mit einem Diener aus der Burg spricht, einem Mann im schwarzen Umhang, mit Tuch vor dem Gesicht.

Auch Alexandre Chastelier vermisst bald seinen Sohn, und Macé Sorin den seinen. Die Witwe Jeanne Édelin wohnt nahe der Burg und hat einen achtjährigen Filius, „sehr schön, sehr rein, sehr klug“, wie sie sagt. Irgendwann ist er fort. Niemand sieht die Jungen je wieder. 

So sickert, ganz langsam, ein schrecklicher Verdacht in die Bürger von Machecoul: Dass ihre Kinder für immer in dieser Burg verschwinden. 

Was, Gott sei den Jungen gnädig, geschieht bloß hinter diesen Mauern? Und was kann man tun?

Als ob in Frankreich nicht schon genug Blut ge­flossen wäre. Denn 1432 lebt niemand mehr, der noch wüsste, was Frieden ist. Seit 1337 verwüstet ein Konflikt das Reich, der einmal der „Hundertjährige Krieg“ genannt werden wird und der nichts anderes ist als der verrohte Machtkampf einer adeligen Elite. 

Ausgelöst hat ihn Englands König Eduard III., der aufgrund dynastischer Verbindungen Anspruch auf den französischen Thron erhob. Seither plündern englische Armeen immer wieder Frankreich. Sie sind zeitweise mit den Heeren des Herzogs von Burgund verbündet und haben den Norden des Landes und sogar Paris besetzt.

Die französischen Könige und ihre Ritter wehren sich gegen die Angreifer, doch Frankreichs Monarchen sind meist schwache Charaktere, die Adeligen wankelmütige, nicht selten unfähige Kämpfer. Keine Seite ist stark genug, um die andere niederzuzwingen. 

Und so schleppt sich der Krieg dahin: wenige große Schlachten, viele Scharmützel, dazu plündernde Banden aus desertierten Soldaten und entwurzelten Bauern. Manche Regionen werden in schrecklicher Regelmäßigkeit verheert, in anderen geht das Leben fast ungestört weiter. 

Und manchmal wird auch gar nicht gekämpft, denn seit 1348 wütet die Pest, und Seuchenjahre sind so fürchterlich, dass niemand mehr Kraft hat zum Morden.

Ein Mädchen wie aus einem Märchen

Es ist ein Mädchen wie aus einem Märchen, das dieses schreckliche Patt aus Tod und Erschöpfung schließlich überwindet: die Bauerntochter Jeanne d’Arc, ein Niemand für die adelsstolzen Kleriker und Ritter. 

Die junge Frau predigt wie eine Heilige den Widerstand gegen die Invasoren. Selbst die nüchterne historische Analyse kann ihren Erfolg nicht wirklich erklären. Die noch nicht einmal 17 Jahre alte Jeanne tritt im Ja­nuar 1429 vor einen einflussreichen Ritter und erklärt ihm, Erzengel und Heilige sprächen zu ihr und hätten ihr ­befohlen: befreie Frankreich! 

So unbezwingbar redet dieses Mädchen, dass es den hohen Herrn und dann immer mehr Ritter in ihren Bann zieht. Wenige Wochen später erscheint Jeanne bereits vor Frankreichs König Karl VII. Sie sei vom Himmel entsandt, um das Land zu retten! Und das Märchenhafte wird tatsächlich wahr: Jeanne d’Arc überredet den unsicheren Herrscher, ein neues Heer aufzustellen, das sich den Engländern entgegenwerfen soll.

Allein: Sie entfesselt in kriegsmüden Männern zwar neuen Kampfgeist – militärisches Wissen hat sie jedoch nicht. Der König stellt ihr Ritter als Kommandeure zur Seite. Einer von ihnen verfügt zwar über wenig Erfahrung, doch gute Verbindungen zum Hof: Gilles de Rais.

Der Adelige ist gerade einmal 24 Jahre alt, als ihn der König an die Seite von Jeanne d’Arc beordert. Er ist in einer Burg an der Loire geboren worden und hat die Eltern früh verloren, vielleicht an Krankheiten. Als Elfjähriger kam er in die Obhut seines Großvaters Jean de Craon. Der ist ein zynischer Mann, der aus Gier zu jeder Gewalttat bereit ist – und der den Enkel an seinen Verbrechen beteiligt.

Was erlebt der Junge in der Burg des brutalen Großvaters? Man kann nur spekulieren; Gilles selbst sieht in seiner verwahrlosten Erziehung den Keim seiner eigenen Gewalt. „In der Jugend“, wird er später gestehen, sei er „immer von sensibler Natur gewesen“ und habe „für ­seine Lust und nach seinem Willen“ an Bösem tun können, was immer er wollte. Einzelheiten wird er nie preisgeben.

Zunächst wächst er zu einem Ritter heran. Ein Cou­sin, Ratgeber des Königs, empfiehlt ihn bei Hofe – und so wird Gilles 1429 Offizier neben Jeanne d’Arc.

Das Bauernmädchen hat sich die von den Engländern belagerte Stadt Orléans zum Ziel gesetzt, sie will den strategisch wichtigen Ort befreien.

Das Wunder geschieht: Befeuert von Jeanne d’Arc, die in einem Moment sogar selbst eine Sturmleiter an die Mauern einer englischen Bastion stellt und sich auch nicht durch einen Armbrusttreffer in die Schulter von ihrer Attacke abhalten lässt, bezwingen Frankreichs Soldaten die Engländer. Gilles de Rais, zuvor ein ruhmloser Ritter, zeichnet sich in den Gefechten durch schrecklichen Furor aus. Was für ein Triumph!

Der Krieg ist damit zwar nicht beendet – er wird sich noch bis 1453 dahinschleppen. Und Jeanne wird ge­fangen genommen und von den Engländern hingerichtet. Aber fortan ist der französische König in der Offensive (und wird schließlich sein Reich zurückerobern).

Gilles de Rais ist einer der Helden der Schicksalsschlacht von Orléans. Er hat sich so hervorgetan, dass ihm der überaus dankbare Karl VII. den Ehrentitel eines Marschalls von Frankreich überträgt. Der Ritter ­könnte jetzt einer der bedeutendsten Männer seiner Generation werden. Doch bald nach Jeannes Tod, wie seltsam, verschwindet er aus dem Zentrum der Macht.

In seinen Taten folgt Gilles de Rais einem satanistischem Ri­tual

 

An den siegreichen Feldzügen Frankreichs beteiligt er sich nicht mehr, dafür bestaunt ihn das Volk in immer exzentrischeren Spektakeln. So nimmt er schon bald mehr als 50 Geistliche und Chorknaben in sein Gefolge auf – oh, Chorknaben, wie liebt er kirchliche Hymnen! 

200 bewaffnete Reiter folgen ihm auf Reisen, wenn er Städte wie Orléans oder Poitiers besucht, Trompeter und Herolde kündigen sein Kommen an, Buch­maler, Waffenmeister und Alchemisten umschwirren den Tross. Als der Adelige einige Monate lang in Orléans residiert, mietet er die feinsten Häuser, lädt zu pracht­vollen Thea­teraufführungen – und zahlt dafür mehr als 80000 Livres, eine unfassbare Verschwendung.

Gilles de Rais gibt mehr Geld aus, als seine Ländereien einbringen. Also lebt er von der Substanz: verkauft eine Burg oder tritt Land ab, um seine Kosten zu decken. So bodenlos ist seine Sucht, dass sein jüngerer Bruder René und ein einflussreicher Cousin – beide um das Erbe besorgt – 1435 einen Befehl des Königs erwirken, der jedem Franzosen weitere Geschäfte mit Gilles verbietet.

Damit ist der einst strahlende Held von Orléans zur persona non grata geworden: politisch und militärisch bedeutungslos, ein Verschwender, der sich auf die ihm noch verbliebenen bretonischen Burgen zurückzieht, etwa nach Machecoul. Niemand beachtet ihn noch. Und vielleicht ist es genau das, was Gilles will – denn längst ist er nicht mehr nur ein Prasser, sondern: ein Mörder.

Später wird er sich daran erinnern, dass seine Verbrechen in dem Jahr begannen, „in dem mein Großvater starb“. Das Leben des schrecklichen Alten endet am 15. November 1432. Beginnt Gilles de Rais da vorwarnungslos seine schreckliche Serie? Lockt er Kinder in den Tod, als der Großvater das Zeitliche gesegnet hat? Oder bereits in den Wochen davor, da der Alte hilflos in Agonie liegt?

Später, im Verhör, wird Gilles kein früheres Verbrechen gestehen, überhaupt taucht nirgendwo in den Quellen ein konkreter Hinweis auf Untaten vor 1432 auf. So mag tatsächlich der Lehrjunge des Kürschners Guillaume Hilairet das erste Kind sein, das diesem schrecklichen Ritter zum Opfer fällt. 

In seinen Taten folgt Gilles einem satanischen Ri­tual. Und er hat Helfer: seinen Verwandten Gilles de Sillé, die Diener Henriet und Poitou sowie Jungen aus seinem Kirchenchor und Ritter aus dem Gefolge – mehr als ein Dutzend Namen werden im Prozess später genannt. 

Auch hier kann man heute nur spekulieren, was sie zu Handlangern werden lässt. Henriet und Poitou zum Beispiel treten bereits als Halbwüchsige in die Dienste des hohen Herren, ebenso die Chorsänger – vielleicht ist es eine perverse Form schrecklicher Erziehung, sie haben es einfach von Kind auf so gelernt. Gilles de Sillé und manche Ritter sind hingegen womöglich durch den schier ewigen Krieg verroht. Vielleicht zählt für sie ein Menschenleben so wenig, dass sie den Befehlen zur Gewalt gleichmütig folgen.

Diese Helfer jedenfalls locken hübsche Jungen in die Burg. Der Maskenmann etwa, den ein Zeuge beim neunjährigen Sohn des Jean Roussin gesehen hat, ist ­Gilles de Sillé. Die Komplizen reden arme Jungen an, Bettler, Bauernkinder, versprechen ihnen, dass sie beim hohen Herrn de Rais als Pagen oder Sänger dienen können, ­stellen Kleidung, Essen, eine Flucht aus dem täglichen Elend in Aussicht. Nur wenn sie keinen Jungen auftreiben können, greifen sie sich wohl auch Mädchen.

Manchmal wurden die Kinder enthauptet, manchmal ihre Kehle durchgeschnitten, manchmal wurden ihre Körper zerteilt

Hat sich erst einmal das Burgtor hinter dem ahnungs­losen Kind geschlossen, wird es in einen eigens präpa­rierten Raum geführt. Im Verhörprotokoll des Dieners Poitou ist nachzulesen, was anschließend geschah.

Der Zeuge sagt aus, dass Gilles de Rais, ehe er seine Ausschweifungen an besagten Jungen oder Mädchen beging, sie mit eigenen Händen mit einem Seil um den Hals an einen Haken hing, damit sie nicht schrien. Dann ließ er sie wieder hinunter, streichelte sie und versicherte ihnen, dass er ­ihnen nicht wehtun werde, im Ge­genteil, er wolle seinen Spaß haben. Dann rieb Gilles de Rais seinen Penis auf dem Bauch der Jungen und Mädchen, wobei er das natürliche Gefäß der Mädchen ignorierte, mit großer Lust und Leidenschaft, bis er sein Sperma auf deren Bäuchen ejakulierte. Dann tötete er sie manchmal mit eigener Hand, oder es war besagter Sillé oder besagter Henriet oder der Zeuge selbst, Poitou, oder jemand anderer. Befragt nach der Methode, antwortete der Zeuge: Manchmal wurden die Kinder enthauptet, manchmal ihre Kehle durchgeschnitten, manchmal wurden ihre Körper zerteilt, und manchmal wurden sie mit einem Keulenschlag auf den Hals getötet.

Mit wahnhafter Präzision schildert der Zeuge, dass de Rais seine Opfer zuweilen vor dem Mord sexuell missbraucht oder danach, „wenn der Körper noch warm ist“ – manchmal in exakt jenem Moment, wenn aus Wunden das Blut spritzt und sie unter ihm sterben.

Gilles und seine Spießgesellen öffnen den Leib, ergötzen sich am Anblick der Organe. Der Ritter küsst den abgetrennten Schädel, lässt seine Helfer den Kopf mit denen der Vortage vergleichen: Welcher ist der schönste?

Am Ende dann zieht der Mörder sich erschöpft zum Schlafen zurück. Die Helfer wischen das Blut auf. Die kleinen Körper werfen sie in Verliese unter einem Burgturm, wie Abfall. Später werden sie die Leichname in einem großen Kamin verbrennen, auch die Kleidung, Stück für Stück, „damit es nicht verräterisch qualmt“, wie der grauenhaft getreue Diener vermerkt.

Noch nach sechs Jahrhunderten schimmert in dem (lateinisch verfassten) Protokoll die Fassungslosigkeit der Menschen durch. Immer wieder fragt der Richter den Ritter, warum er das getan hat.

Der Herr Präsident, überrascht, wie er sagt, dass der Angeklagte alle seine Verbrechen aus eigener Initia­tive und ohne fremde Anstiftung begangen hat, ermahnte den Angeklagten, seine Motive zu nennen, um sein Gewissen zu erleichtern und die Gnade des Erlösers zu erlangen. Daraufhin wurde der Angeklagte zornig, so ermahnt worden zu sein, und antwortete auf Französisch: „Ach ­Mon­sieur, Sie foltern sich selbst und mich dazu!“ Darauf sagte der Herr Präsident: „Ich quäle mich selbst nicht im Geringsten, aber mich befriedigt die Antwort nicht, ich will die abso­lute Wahrheit wissen.“ Worauf besagter Angeklagter antwor- tete: „Wahrlich, es gab kein anderes Motiv, keinen anderen ­Anlass, kein anderes Ziel. Ich habe ihnen schon genug gesagt, um zehntausend Männer hinzurichten.“

Genug gesagt? Niemand weiß wirklich, wann und wie er sein grausiges Ritual entwickelt. Ob er nicht doch schon im Krieg an der Seite von Jeanne d’Arc sadistischen Gefallen an der Qual anderer entdeckt hat? Oder gar schon als unbeaufsichtigter Junge auf der Burg des brutalen Großvaters? 

Sicher ist, dass Gilles de Rais ab etwa 1432 fast pausenlos mordet: auf den Burgen von Machecoul, Tiffauges und Champtocé sowie auf Reisen in irgendwelchen Häusern, in denen er Quartier nimmt. In Vannes zum Beispiel lockt einer der Chorknaben einen Zehnjährigen zum Ritter, der sein Opfer sexuell missbraucht und es dann ermorden lässt. Der Diener Poitou erinnert sich an ge­rade diesen Mord, so darf man vermuten, weil er den Leichnam anschließend in einer Latrine verstecken soll – und Poitou in die Abortgrube hinabsteigen muss, um den Körper unter den Unrat zu drücken.

Und nie, nie hat sich jemand gewehrt.

Diejenigen, die sich beschweren würden, riskierten Einkerkerung oder Misshandlung

Der Schuster André Barbe aus Machecoul etwa wird erst beim Prozess eine Aussage wagen: Ja, der Sohn von Georges Le Barbier sei beim Apfelpflücken verschwun- den und das Kind von Guillaume Jeudon und das Kind von Jean Roussin und das von Alexandre Chastelier, „und er hörte noch Klagen vom Verlust anderer Kinder aus besagtem Ort Machecoul“, so das Protokoll. 

Nachbarn warnen Barbe und seine Frau, sie sollten „auf ihr eigenes Kind achten, damit es nicht entführt wird, und sie fürchteten sich sehr davor“. Und als Barbe einmal in einer Nachbarstadt jemandem erzählt, dass er aus Machecoul kommt, ist der Fremde schockiert „und sagt ihm, dass sie dort Kinder essen“.

Und doch: André Barbe fügte hinzu, dass niemand es wagte, darüber zu sprechen, „aus Angst vor denen in der Kapelle von Gilles de Rais – und aus Angst vor seinen anderen Männern. Diejenigen, die sich beschweren würden, riskierten Einkerkerung oder Misshandlung“.

So groß ist die Macht des Ritters, dass er nach Belieben Kinder töten kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So kraftvoll seine Aura, dass sie aufkom­mende Klagen gleichsam abperlen lässt. Kein Bauer oder Handwerker könnte den Burgherrn in die Schranken weisen. Was hinter den Mauern seiner Bastion vor sich geht, bleibt mysteriös. Und vielleicht ist es gerade dieses bloße Ahnen, dieses Nicht-genau-Wissen, was das Grauen noch verstärkt und die düstere Macht des mörderischen Adeligen erst unbezwingbar werden lässt.

Der Mörder begeht einen Fehler

Am Ende legt sich de Rais die Schlinge selbst um den Hals, doch dauert es Jahre, bis sie sich zugezogen hat. Er lebt weiter verschwenderisch. In dem Dorf Machecoul stiftet er eine Kapelle, die den „unschuldigen Kindern“ geweiht ist, und jeder der angst­geduckten Bürger mag sich seinen Teil dabei denken.

1437 muss er die Burg Machecoul im Streit um den Familienbesitz an seinen Bruder und den Cousin abtreten. „Zwei oder drei Wochen vor der Übergabe“, so Henriet und Poitou in nahezu gleichlautenden Aussagen, müssen die Diener die Skelette „von ungefähr 40 Kindern aus dem Turm nahe der unteren Halle holen und verbrennen“. 

Dabei geschieht Seltsames: Ein weiterer Mordhelfer lässt zwei adelige Damen heimlich nach Machecoul, ­damit die feinen Herrschaften durch einen Spalt beim grauenhaften Aufräumen zusehen können. 

Ist es perverse Neugier? Sind die Gerüchte von den Bettlern und Bauern endlich bis zu den anderen Rittern getröpfelt, sodass man sich in diesen Kreisen vergewissern oder sich gar an den Mordtaten delektieren will?

Wie auch immer: Der Täter bleibt unbehelligt. Als sein Bruder René und der Cousin die Burg überneh- men, entdecken sie in einem Verlies zwei Kinder­skelette, offenbar von Opfern, die die Diener vergessen haben. Sie fragen Henriet und Poitou, was das zu bedeuten habe. Die geben sich ahnungslos – und dann folgt: nichts. Niemand fragt nach oder stellt Ermittlungen an.

Trotzdem, so muss man annehmen, haftet Gilles de Rais spätestens 1437 unter Frankreichs Rittern der Pesthauch des Mörders an: eines Mannes, mit dem man besser nichts zu tun hat. 1438 muss er die Burg Champtocé abtreten – wieder lassen Poitou, Henriet und andere Helfer „so heimlich wie möglich“ etwa 40 Kinderskelette verschwinden, sie schaffen sie „in drei großen Kisten“ fort und verbrennen sie.

Im Jahr darauf trifft Gilles den charmanten, skrupel­losen François Prelati – einen Italiener, der sich als Alche­mist und Teufelsbeschwörer ausgibt. 

Denn der Ritter, dessen Naivität fast so groß ist wie sein Sadismus, sucht ständig nach Hexern, Dämonen­beschwörern, Wundertätern, die für ihn Gold erschaffen sollen, um seine immer weiter anwachsenden Schulden zu begleichen. 

(Und die ihn vielleicht auch, aber das bleibt Spekulation, von jenem Blutdurst heilen sollen, unter dem er selbst doch irgendwie leidet. Jedenfalls fantasiert er gelegentlich von einer Pilgerreise nach Jerusalem, um sich im Heiligen Land von seinen Sünden zu reinigen, aber nie wird es dazu kommen.)

Gilles zieht Scharlatane von weit her an, die ihm mit ihren Gaukeleien noch die letzten Münzen abnehmen. Und der hemmungsloseste von allen ist François Prelati: Anfang 20, gebildet, gewitzt – und völlig gewissenlos. Der Ritter verfällt dem charmanten Fremden, macht ihn möglicherweise auch zu seinem Liebhaber, sieht in ihm den Retter.

Prelati, so wirkt es heute, nimmt den ihm hörigen Adeligen eiskalt aus. Er gaukelt ihm mit nächtlichem Lärm in Burgkammern wüste Kämpfe mit Dämonen vor. Oder er lässt im regendunklen Wald Kreise auf dem ­ Boden markieren und beschwört den Teufel. 

Doch der Italiener entdeckt nur allzu rasch, dass um seinen neuen Herrn in der Tat Dämonisches vor sich geht, etwas viel Teuflischeres als alle Tricks, mit denen er den Ritter blendet: Gilles überreicht ihm eines Abends in einem Glas die abgetrennte Hand und das herausgeris­sene Herz eines Kindes – auf dass er die Organe Satan opfere. Was Prelati darüber denkt, weiß niemand; aber er bleibt bei dem Franzosen.

Am Ende bringt weder ein Kindsmord noch eine Teufelsanbetung Gilles de Rais zu Fall, sondern eine für diese Epoche eher gewöhnliche Gewalttat. Am 15. Mai 1440 stürmt er mit 60 Bewaffneten eine Kirche und entführt den Priester – der Streit geht wieder einmal um den Verkauf einer Burg. Der Geistliche ist allerdings von adeligem Geblüt und zudem Bruder des Schatzmeisters von Herzog Johann V. der Bretagne. 

Damit hat sich Gilles de Rais mächtige ­Feinde geschaffen: neben dem Herzog auch den Bischof Jean de Malestroit von Nantes, zu dessen Diözese die geschändete Kirche gehört.

Erst jetzt nutzen die Adeligen das Wissen um die Morde, das sie offenbar schon seit Jahren angesammelt haben. Es scheint, als hätten sie genauso kaltherzig, wie Gilles de Rais seine Opfer tötete, über Jahre dieses Wissen für sich behalten, um es erst dann einzusetzen, wenn der richtige Anlass kommt.

Der Spuk ist vorüber, endlich

Am 29. Juli 1440 veröffentlicht Bischof Jean de ­Malestroit einen Brief, in dem er unter anderem den Vorwurf erhebt, dass „Gilles de Rais und gewisse Komplizen die Kehlen von Jungen durchschneiden, dass er mit diesen Kindern die Sünde der Sodomie begeht und dass er schreckliche Dämonen anruft“. 

Gilles aber kann nicht anders: Selbst noch nach dem anklagenden Brief des Bischofs lockt er ein Kind zu sich. Der Sohn von Éonnet de Villeblanche, der um den 15. August 1440 herum verschwindet, ist wohl sein letztes Opfer.

Am 15. September 1440 verhaften Soldaten des Herzogs schließlich de Rais, Henriet, Poitou und Prelati (Gilles de Sillé, der schlimmste aller Komplizen, ist vorher schon spurlos verschwunden). Niemand leistet Widerstand. 

Der Spuk ist vorüber, endlich.

Bald darauf steht Gilles de Rais in Nantes vor gleich zwei Gerichten: einem kirchlichen unter Bischof Jean de Malestroit und einem Inquisitor sowie einem weltlichen unter Pierre de L’Hôpital, dem obersten Richter der Bretagne. Im großen Saal der örtlichen Burg reihen sich nun tränenreiche Zeugenaussagen an dramatische Geständnisse.

Eltern, Verwandte, Nachbarn berichten von den verschwundenen Kindern. Wie viele es waren? Niemand weiß es, auch nicht der Mörder selbst. An einer Stelle ist vor Gericht von „100, 200 oder noch mehr“ Opfern die Rede, an anderer von 140 Toten. 

Der Mörder selbst gibt sich anfangs hochmütig, bricht aber rasch zusammen, als ihm die Exkommunikation und, einige Tage später, auch noch die Folter angedroht werden. 

„Demütig, fromm und in Tränen“ bittet er seine Richter nun um Vergebung.

Die Untaten so vieler Jahre werden in nur zwölf Tagen verhandelt. Am 25. Oktober 1440 verurteilt der weltliche Richter den Mörder zum Tode, ebenso wie zuvor seine Diener Henriet und Poitou (François Prelati wird milder bestraft, entkommt nach kurzer Zeit aus dem Kerker, wird aber fünf Jahre später, nach weiteren Skandalen, erneut verurteilt – und hingerichtet).

Tags darauf führen die Schergen Gilles de Rais gegen elf Uhr morgens zum Galgen, was eine Gnade ist: Er soll hängen, erst danach kommt sein Leib in die Flammen eines unter dem Blutgerüst aufgeschichteten Scheiterhaufens – und das auch nur kurz. Man wird seinen Leib, das hat ihm der Richter als Belohnung für seine umfassende Reue versprochen, rechtzeitig bergen, um ihn anschließend in einer Kirche zu bestatten. 

Die Körper der Diener werden hingegen zu Asche vergehen – ihnen gewährt man bloß, auf Wunsch des Hauptangeklagten, die zweifelhafte Gnade, ein paar Augenblicke länger zu leben. 

Sie sollen mit eigenen Augen sehen können, wie der Ritter stirbt, damit sie in ihrem Tode nicht den Verdacht haben, der privilegierte Adelige werde nach ihrem eigenen Hinscheiden mög­licher­weise noch im letzten Moment begnadigt.

Der berüchtigte Angeklagte, notiert ein Schreiber des Gerichts, „hielt schöne Reden und betete zu Gott. Und Gilles de Rais starb, seine Sünden bereuend.“

Das ist vielleicht noch eine Untertreibung: Gilles scheidet womöglich sogar freudig dahin. Denn im Gerichtsprotokoll ist auch vermerkt, wie er ein paar Tage zuvor noch einmal den Teufelsanbeter Prelati getroffen hat. De Rais umarmte den Italiener und sagte: „Auf Wiedersehen, mein Freund! Wir werden uns in den Freuden des ­Paradieses wiedersehen!“

Vermutlich stirbt der hundertfache Kindermörder also in dem festen Glauben, dass er unbeschwert ins Himmelreich auffahren werde.

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