Völkermord-Anklage gegen Israel: Was ist dran an Südafrikas Vorwürfen?

12.01.2024 10:39

Schon wenige Wochen nach dem 7. Oktober wurde Israel Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vorgeworfen. Jetzt muss sich das Land deswegen vor Gericht verantworten. 

Mit jeder Rakete, die im Gazastreifen einschlägt, wird der Ton gegenüber Israel rauer. Jetzt muss sich das Land wegen der Angriffe erstmals wegen des Vorwurfs des Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Südafrika verklagt Israel. In der 84-seitigen Anklageschrift wird die Gewalt Israels gegen Palästinenser im Gazastreifen als Taten mit dem Charakter eines Völkermords beschrieben. Israel töte Palästinenser, "füge ihnen schweren geistigen und körperlichen Schaden zu und schaffe Lebensumstände, die auf ihre physische Zerstörung zielen". Israelische Bombenangriffe, erzwungene Flucht, Angriffe auf Krankenhäuser und Geburtskliniken sowie die Blockade des Gebiets, die zu einem Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser geführt hat, hätten mehr als 21.000 Todesopfer gefordert, heißt es in dem Dokument.

Als weitere Belege führt der Kläger Äußerungen israelischer Minister an. Zitiert werden Drohungen, Gaza unbewohnbar zu machen sowie Forderungen von rechtsextremen Ministern, Palästinenser dauerhaft zu vertreiben. (Mehr dazu lesen Sie hier.) Es handele sich um eine "direkte und öffentliche Anstiftung zum Völkermord".

Grundlage der Klage ist die UN-Völkermordkonvention. Beide Staaten haben diese Konvention unterzeichnet und sich damit nicht nur verpflichtet, keinen Völkermord zu begehen, sondern auch diesen zu verhindern und zu bestrafen. Aber was bedeutet das genau?

Was ist ein Genozid?

Der Begriff Genozid wird mit Völkermord gleichgesetzt und geht auf den von den Nazis verübten Holocaust zurück. Eingeführt hat ihn der jüdische Jurist Raphael Lemkin, um die Ermordung der Juden zu benennen. Lemkin setzte sich zudem dafür ein, dass der Völkermord nach internationalem Recht bestraft wird. Der Begriff wurde 1948 in die Genfer Konvention aufgenommen.

Von einem Völkermord oder Genozid sprechen Juristen, wenn folgende Handlungen aus rassistischen, ethnischen oder religiösen Gründen begangen werden:

  • Tötung
  • schwerer körperlicher oder seelischer Schaden an Mitgliedern einer Gruppe
  • Auferlegung von Lebensbedingungen, die Mitglieder oder ganze Gruppen vollständig zerstören können
  • Maßnahmen, die Geburten innerhalb einer Gruppe verhindern
  • gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe

Beispiele für Völkermorde gibt es einige: unter anderem die Vergehen der deutschen Kolonialmacht an den Herero und Nama 1904 und 1908. Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ruanda hat die Tötung Hunderttausender Tutsi in Ruanda (1994) als Völkermord bezeichnet. Der millionenfache Hungertod von Ukrainern und Bauern weiterer Nationalitäten durch die Sowjetunion in den 1930er-Jahren (Holodomor), wurde von einem ukrainischen Gericht als Genozid bezeichnet. Derzeit werfen sich Kiew und Moskau im Zusammenhang mit der russischen Invasion wieder Genozid vor. Der Internationale Gerichtshof und das UN-Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien haben den Massenmord der Serben an den Bosniaken ebenfalls als Völkermord bezeichnet. Und der Deutsche Bundestag spricht im Hinblick auf die Tötung unzähliger Jesiden (2014-2017) durch den Islamischen Staat von einem Genozid.

Es darf nur ein Motiv geben

Laut Völkerrecht muss hinter all diesen Maßnahmen die Absicht stehen, eine Gruppe zu zerstören. "Allerdings muss das Ziel nicht erreicht werden, um den Tatbestand zu erfüllen und wegen Völkermordes bestraft zu werden", sagt Lisa Wiese vom Institut für Völkerrecht an der Universität Leipzig dem stern. Ausschlaggebend sei die Zerstörungsabsicht, die "in der Regel aber sehr schwer nachweisbar ist". Die Zahl der Opfer sei dabei eher unerheblich, könne aber auf entsprechende Absichten hindeuten.

Nach einem Urteil des Internationalen Gerichtshof im Fall Kroatien gegen Serbien im Jahr 2005 muss die Zerstörungsabsicht das einzige Motiv sein. Sobald andere Gründe offensichtlich werden, kann der Tatbestand Völkermord abgelehnt werden. "Die Zerstörung der Gruppe muss das einzige Handlungsziel des Täters sein", betont Wiese.

Zunächst keine Hinweise auf Völkermord im Gazastreifen

Im Krieg zwischen Israel und der Hamas ist der Fall nach Einschätzung von Juristen nur schwer zu bewerten. "Auch wenn einzelne Handlungen der israelischen Streitkräfte als Kriegsverbrechen bezeichnet werden können, bedeuten diese nicht zugleich einen Völkermord", sagt Matthias Hartwig vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht dem stern. Bisher habe Israel nicht die Absicht geäußert, die Bevölkerung in dem Küstenstreifen auszulöschen. Der Militäranalyst am Institut für Nationale Sicherheitsstrategie (INSS) in Tel Aviv, Kobi Michael, sagte in einem ZDF-Interview lediglich, Israel müsse "die Hamas als militärische Organisation auslöschen".

Rechtswissenschaftlerin Lisa Wiese von der Universität Leipzig räumt zudem ein, dass Israel nach dem Völkerrecht ein Selbstverteidigungsrecht zusteht. Das schließe den Einsatz militärischer Gewalt – im Rahmen des humanitären Völkerrechts – mit ein. In einem anderen Fall stellte der Internationale Gerichtshof zudem fest, dass Gewaltandrohung oder Gewalttaten gegen einen anderen Staat allein nicht ausreichen, um von einem Genozid zu sprechen.

Wie geht es weiter?

Südafrika wird seine Klage am Donnerstag erläutern. Am Tag darauf hat Israel die Gelegenheit, zu antworten. Bei dieser Anhörung wird es zunächst um einen Eilantrag Südafrikas gehen, über den die Richter in wenigen Wochen entscheiden werden. Völkermordverfahren können sich allerdings über Jahre hinziehen.

 

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