Warum Angst gerade heute so viele Menschen krank macht

14.02.2019 13:41

Es erscheint paradox: Wir leben im Wohlstand – Krieg und andere Katastrophen kennen wir meist nur aus den Nachrichten. Gleichwohl prägen Ängste und Unsicherheit das Lebensgefühl vieler Menschen. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer erklärt, wieso es dazu kommt

GEO WISSEN: Herr Dr. Schmidbauer, ab wann sind Ängste so stark, dass man einen Fachmann konsultieren sollte?

WOLFGANG SCHMIDBAUER: Es gibt zweifellos eine Vielzahl vernünftiger Ängste: Wenn ich etwa Abitur mache und Angst habe, das falsche Studienfach zu wählen, dann ist das eine Angst, die sich auf ein reales Problem bezieht. Sie macht aktiv, stimuliert einen, sich zu informieren und eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen. Diese Angst möchte ich niemandem nehmen. Krankhaft wird Angst immer dann, wenn sie unangenehme körperliche Symptome verursacht: oft solche, bei denen nicht auf Anhieb erkennbar ist, dass Angst der Auslöser ist.

Was sind die häufigsten Symptome?

An erster Stelle stehen Herzbeklemmungen: also die Angst, einen Infarkt zu erleiden. Der Betroffene geht in die Klinik – und bekommt den Befund, mit dem Herzen könne er 100 Jahre alt werden. Bleiben die Symptome bestehen, rät man ihm, zum Psychotherapeuten zu gehen. Man spricht dann von einer "somatisierten Angst". Die kann sich auch durch Schlafstörungen, Schwindelanfälle, Tinnitus, Atemstörungen oder einen Kloß im Hals äußern. Der zweite wichtige Grund, weshalb Patienten eine Psychotherapie beginnen, ist eine soziale Phobie. Wenn also jemand kommt und sagt: "Ich bin unglücklich und allein, alle anderen Menschen haben einen Partner und Kinder, nur ich nicht – was ist in meinem Leben falsch gelaufen?" Dann stellt sich oft heraus, dass sich dieser Mensch bei kleinsten Kränkungen sozial zurückzieht, sich nicht mehr mit anderen auseinandersetzt. Sein Sozialleben ist verarmt, und am Ende steht oft eine Depression.

Sie machen die Erfahrung, dass die Ängste der Menschen zunehmen. Woran liegt das?

Noch nie zuvor hatten so viele Menschen so viel zu verlieren wie heute: ihre Sicherheit, ihren Wohlstand, ihre Zukunftschancen. Wir gehen zu Vorsorgeuntersuchungen, die möglichst früh Gefahren entdecken sollen, von denen wir noch gar nichts ahnen. Wir hören Experten zu, die uns auf Risiken aufmerksam machen, an die wir normalerweise nicht einmal denken. Wir sind gegen alles Mögliche versichert, vom Verlust des eigenen Hauses bis zum Verlust der Zahnprothese. Aber all das macht uns nicht fröhlich oder angstfrei, sondern führt uns überhaupt erst vor Augen, was alles passieren kann.

Das klingt ein wenig wie Jammern auf hohem Niveau.

Das sehe ich anders. In den letzten Jahrzehnten haben die Unsicherheiten enorm zugenommen, die Ängste vor falschen Entscheidungen. Das hängt mit der Fülle an Wahlmöglichkeiten in der individualisierten Gesellschaft zusammen. Ob es um den richtigen Partner geht oder die Überlegungen zum eigenen Lebensweg: Wir stehen vor einer unüberschaubaren Zahl an Optionen. Da kann jede Entscheidung ein Fehler sein, der eine klein, der andere groß. Aber gemeinsam ist all diesen Überlegungen die gefühlte Unsicherheit. Das war früher anders: Die Söhne von Bauern wurden Bauern und die von Schmieden wurden Schmiede, das war vorgezeichnet. Ein junger Mensch hatte damals nur wenige Wahlmöglichkeiten und daher auch wenig Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Insofern musste er auch weniger Ängste seelisch verarbeiten

Der promovierte Psychologe Wolfgang Schmidbauer führt eine Praxis für Psychoanalyse und Paartherapie in München. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt von »Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus«.

Früher war also alles besser?

Gewiss nicht. Aber in der globalisierten Welt nehmen Ängste allein schon deshalb zu, weil sie eine biologische Reaktion auf Unübersichtlichkeit und Reizüberflutung sind. Und von beidem gibt es zweifellos immer mehr. Nehmen Sie die berufliche Situation junger Menschen: Ich musste mich in meiner Laufbahn niemals bewerben, habe nie die Erfahrung gemacht, 20 Bewerbungen loszuschicken und nicht einmal eine Antwort zu erhalten. Allein die Verkürzung der Gymnasial- und Studienzeiten zeigt, wie viel mächtiger die Angst geworden ist, im internationalen Wettbewerb auf der Strecke zu bleiben. Viele junge Leute spüren, dass sie die Karrieren ihrer Eltern nicht ohne Weiteres wiederholen können. Und auch die Eltern ahnen das und können ihren Nachkommen nicht mehr mit jener Zuversicht begegnen, die das Ich der Kinder stärkt.

Ist es nicht aber auch so, dass jungen Menschen heute viele Wege offenstehen – die ein Gefühl von Freiheit mit sich bringen?

Das gibt es gewiss auch. Aber ich beobachte häufig junge Menschen, die sich von der Welt der Eltern abwenden. Die nicht mehr aus dem Haus gehen, die Kopfschmerzen und Schlafstörungen haben. Die in Ruhe gelassen werden wollen. Die zum Eremiten in ihrem Jugendzimmer werden, auf der Suche nach Sicherheit und Überschaubarkeit. Die sich vor der Realität fürchten und in elektronisch kontrollierte virtuelle Welten flüchten, die ihnen eine Pseudoautonomie vermitteln. Dadurch lässt sich aber keine Angstbewältigung einüben.

Welche gesellschaftlichen Gefahren bringt die Zunahme der Angsterkrankungen mit sich?

Je realistischer die Gründe erscheinen, skeptisch in die Zukunft zu sehen, desto größer wird auch die Anziehungskraft von Menschen, die Ängste verleugnen helfen, die rücksichtslose Stärke und Zuversicht verkünden – beispielsweise Motivationstrainer, die ihre Kunden glauben machen, sie könnten alles erreichen, wenn sie es nur stark genug wollen. Das können aber auch Vertreter radikaler Parteien sein, die ein Ende der Ängste propagieren, wenn beispielsweise keine Muslime mehr ins Land dürfen. Gerade in der Politik ist die Angstabwehr durch Hetzpropaganda, aber auch durch die Produktion falscher Zuversicht bedrohlicher als die Ängste selbst.

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