Wie eine Frau unter dem Eis Heilung und Frieden findet

26.12.2018 13:07

Wenn es Winter wird in Finnland, geht Johanna Nordblad zum zugefrorenen See, sägt ein Loch ins Eis und taucht. In der Schwärze und Kälte findet sie Ruhe – und Linderung

Text: Alexandra Rojkov, Fotos: Elina Manninen

Ein Januarmorgen, der Himmel wie heller Granit. Die Nacht hat Schnee gebracht, er hüllt die Wipfel der Bäume ein, hat sich auf die Waldwege gelegt. Johanna Nordblad steht am Ufer des Sonnanen im Süden von Finnland. Die Eisdecke auf dem See ist zehn Zentime­ter dick und hart wie Glas.

Nordblad, 42 Jahre alt, hat die Aus­strahlung einer Amazone, ihre Arme sind sehnig wie die eines Schreiners. Das dunkelblonde Haar fällt in Wellen auf kräftige Schultern. Linien durch­ziehen ihr Gesicht. Sie könnten vom Lachen stammen. Oder vom Schmerz. Auf Nordblads Schulter ruht eine Säge, die lang und dünn ist wie ein Speer. Streng blickt Nordblad über das Eis. Dann rammt sie die Klinge in den Un­tergrund. Immer wieder stößt sie die Säge ins Eis wie eine Harpune.

Nordblad jagt nach einem Gefühl. Nach der Erlösung, die ihr ein Tauch­gang im eisigen Wasser verspricht. Sie hat gelernt, die Kälte zu lieben. Ihr dankbar zu sein wie einer Freundin in der Not: „Sie hat mich befreit.“

Der Unfall geschah im Frühsommer 2010. Johanna Nordblad fuhr Mountainbike; seit Tagen hatte es geregnet: Die Piste war rutschig und aufgeweicht. Als Nordblad halten wollte, kippte ihr Bike. Beim Sturz brach das Pedal ab und verdrehte ihr den Fuß, der daran fixiert war. Er hing nun an der Wade wie eine verrutschte Socke.

Johanna Nordblad hat keine Angst vor Schmerzen. Sie liebt Extremsport und dehnt dafür gern die Grenzen des Menschenmöglichen. Als Freitaucherin kann Nordblad mit einem Atemzug fast 200 Meter weit schwimmen. Sie taucht in Tiefen über 50 Meter, die anderen das Trommelfell zerdrücken würden.

Nordblad weiß, dass Schmerz oft wie eine Tür ist, durch die man hindurch­ gehen muss. Doch an jenem Sommer­tag begann ein Schmerz, der keinen Sinn zu haben schien. Der Nordblad nichts lehrte, sondern sie nur quälte. Der Knochen in Nordblads linkem Bein war gesplittert: Er hatte sich verdreht wie ein Tuch, das man auswringt. Die Ärzte gaben ihr Morphium, und trotzdem schrie sich bei jeder Bewegung. Als sie nach zehn Tagen das Kranken­haus verließ, konnte Nordblad nicht auf Krücken gehen. Sie kroch und zog die Beine hinter sich her.

Freitaucher sind Meister ihres Kör­pers. Wenn sie in der Tiefe verschwin­den, dann aktiviert ihr Organismus den Überlebensmodus: Das Herz schlägt langsamer, das Blut verlässt Arme und Beine und strömt ins Innere. Geht der Sauerstoff zur Neige, folgt ein Moment der Trance. Er ist das Warnsignal vor dem Blackout. Erfahrene Taucher steigen dann auf. Laien werden ohnmächtig.

Um in derartigen Momenten nicht in Panik zu geraten, hat Johanna Nordblad jahrelang trainiert. Ihre Beharrlichkeit und ihr Ehrgeiz halfen ihr auch nach dem Unfall. Am Ende des Sommers 2010 konnte sie auf Krücken gehen. Im Jahr darauf saß sie wieder auf dem Fahrrad.

Doch sobald sie schlief, durchfuhr der Schmerz sie wie ein böser Traum. Manchmal glaubte sie das Bein breche erneut. Die Knochen waren zusammengewachsen, die Nervenbahnen jedoch heilten kaum. Ein Arzt riet Nordblad, ihr Bein in kaltem Wasser zu baden: bei vier bis acht Grad Celsius. Es gebe keinerlei Beweis dafür, dass die Kälte den Schmerz lindern könne, sagte der Arzt zu ihr. Aber manchmal helfe sie.

Johanna Under The Ice - NOWNESS

Die größte Gefahr: unter dem Eis ohnmächtig zu werden

"Ich habe ihm nicht geglaubt“, erzählt Nordblad, während sie ein Loch in das Eis sägt. Sie hat am Sonnanen eine Hütte gemie­tet. In diesem Winter verbringt sie fast jedes Wochenende hier am See. Das Wasser des Sonnanen ist so klar, dass man bis auf den Grund blicken kann. Im Frühjahr blühen Birken, im Sommer liegen Ausflügler am Ufer.

Im Winter hat Nordblad ihn oft für sich. Der Schnee dämpft alle Geräusche, nur das Raspeln von Nordblads Säge hallt über das Wasser. Manchmal schwimmt sie im Badeanzug, an diesem Januar­tag entscheidet sie sich für Neopren und Tauchermaske. Dann setzt sie sich auf den Rand des Eislochs und lässt die Beine in den See baumeln. Sie sieht aus wie ein Fabelwesen. „Wenn du ein Tier wärst, Johanna, welches wärest du dann?“ Sie lächelt. „Ich wäre das Tier, das ich bin“, sagt sie.„Ein Mensch.“

Das Wasser war von jeher Johanna Nordblads Element: Als Kind verbrach­te sie jedes Wochenende im Schwimm­bad und nervte den Bademeister, wenn sie allein stundenlang im Becken blieb. Erst im Jahr 2000 entdeckte sie das Freitauchen. Nordblad erinnert sich bis heute, wie es war, das erste Mal die Luft anzuhalten. Sie sank zum Grund und spürte, wie sich ihr Herzschlag verlang­samte, ihr Körper durch den Druck zu schrumpfen schien. Nordblad legte sich auf den Boden des Beckens und sah die Schwimmer über sich hinwegziehen. Sie fühlte sich als ein Teil des Wassers. Wie ein Tier in seiner Welt.

Anfang 2013 setzte Nordblad sich an das Saunatauchbecken eines Schwimm­bads in Helsinki. Das Wasser war sie­ben Grad kalt. Nordblad hängte ihren Unterschenkel hinein. Zuerst fühlte sie nur ein Kribbeln, dann explodierte der Schmerz, dass Nordblad die Tränen lie­fen. Fünf Minuten hielt sie es aus.

Nordblad wusste, dass Angst vergeht, wenn man sich ihr langsam nähert. Im Frühjahr 2013 fuhr Nordblad fast jeden Tag zum Schwimmbad und hielt ihren Unterschenkel in das kalte Be­cken. Am Anfang erfüllte der Schmerz sie vollständig, doch mit den Wochen zog er sich zurück. An seine Stelle trat ein Gefühl, das Nordblad sonst nur von tiefen Tauchgängen kannte. Die Kälte ließ Nordblad innerlich ruhig werden und zugleich wach und klar, als trete sie an einem Wintermorgen ins Freie.

Irgendwann hob Nordblad auch das rechte Bein ins Becken. Rutschte bis zu den Schultern ins Wasser. Schließlich versank sie ganz. „Es fühlte sich an, als würde mein Körper erst herunterfah­ren und dann neu starten.“ Eigentlich reagiert der menschliche Körper auf eiskaltes Wasser mit einem Schockreflex: Das Herz rast, die meis­ten Menschen können in diesem Zu­stand den Atem nur wenige Sekunden lang anhalten. Johanna Nordblad hat ihrem Körper die Panik abtrainiert. Wenn der erste Schreck weicht, bleibt nur die Kälte zu­rück, rein und klar wie ein Diamant.

Die Heilung beginnt im Kopf

Am liebsten taucht Jo­hanna Nordblad in natürli­chen Gewässern. Sie spürt keinerlei Angst, wenn sie am Rand des Eislochs sitzt und die Beine ins Wasser hält. Bevor sie taucht, wer­den ihre Gesichtszüge ruhig. Dann lässt sie sich fallen und verschwindet in eine Welt, in der andere sterben würden. Die Welt unter dem Eis ist so still, als sei man begraben. Das Dunkel beginnt nach wenigen Metern. Man spürt, dass dies kein Ort für Menschen ist.

Doch Johanna Nordblad liebt das Knacken des Eises. Die Muster, die ein­ geschlossene Luft im Eis zeichnet. Die Kälte, die betäubt und betört, die sie gleichzeitig in den Schlaf zu wiegen und wachzurütteln scheint. Schließlich taucht sie auf, streckt den Kopf aus dem Eisloch. „Wie schön es dort unten ist.“ Sie lächelt.

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