Wir haben diesem Krieg tatenlos zugeschaut

11.11.2020 11:42

 

Ein verwundeter armenischer Soldat in der Hauptstadt Bergkarabachs, Stepanakert

Als ich Anfang Oktober in den Kellern von Karabach Schutz suchte vor den Bomben der aserbaidschanischen Armee, die Wände wackelten, die Angst in den Gesichtern der Menschen sah, stellte ich mir immer wieder eine Frage: Warum ist der Nato und der EU offenbar egal, was in Karabach passiert?

Jetzt wurden Fakten geschaffen, ohne EU und Nato, auch ohne die OSCE, die seit 1992 in dem Konflikt verhandelt, aber nun völlig außen vor blieb.

Es war ein Totalausfall. Peinlich für Deutschland als Teil der so genannten Minsk-Gruppe.

Einer hat – mal wieder – gewonnen: Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit den Regierungschefs von Aserbaidschan und Armenien einen Waffenstillstand durchgesetzt, der eine schmerzhafte Niederlage für Armenien und ihren Premierminister Nikol Paschinjan bedeutet.

Sie müssen 80 Prozent der Gebiete an Aserbaidschan abgeben, russische Truppen werden als sogenannte „Friedenstruppen“ die Straßen kontrollieren. Ein Hohn für all diejenigen, die in Syrien oder der Ukraine erlebt haben, was für einen „Frieden“ Russland bringt.

Paschinjan wird das im Anbetracht der Proteste in der Bevölkerung gegen den Deal politisch kaum überleben können. Klar ist aber auch: Armenien hatte keine Chance gegen die militärische Übermacht aus Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei und ausgestattet mit israelischen Drohnen.

 

Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan im Interview mit BILD-Reporter Paul Ronzheimer am 3. Oktober in der armenischen Hauptstadt Jerewan

Den Armeniern, die in Bergkarabach wohnen, droht jetzt die Vertreibung. Den Worten der aserbaidschanischen Regierung, dass die Menschen bleiben dürften, traut niemand.

Präsident Alijew ist als Lügner bekannt. Als er in dieser Woche ein Interview mit einer BBC-Reporterin führte, antwortete er auf die Frage, warum Aserbaidschan auch zivile Ziele bombardierte, das seien „Fake News“. Als die Reporterin darauf hinwies, dass BBC-Reporter den Beschuss von zivilen Zielen selbst erlebt haben, wiederholte er den Vorwurf von „Fake News“.

Auch ich habe erlebt, wie brutal die aserbaidschanische Armee vorgegangen ist. Als wir aus der Hauptstadt Bergkarabachs, Stepanakert, bericheteten, verbrachten wir jede Nacht im Keller, immer wieder gab es Sirenen-Alarm, die Angriffe waren heftig.

Tagsüber, wenn es mal für eine halbe Stunde keinen Bomben-Alarm gab, konnte man die Schäden begutachten: Immer wieder trafen die Geschosse der aserbaidschanischen Armee Wohnhäuser, ganz eindeutig zivile Ziele. So wie eine Kirche in der Stadt Shushi, die gleich zweimal bombardiert wurde. Kurz nachdem wir dort gewesen waren, um über den ersten Angriff zu berichten, gab es einen zweiten Angriff, bei dem ein russischer Kollege schwer verletzt wurde.

 

Aserbaidschans Machthaber Alijew bejubelte die Unterzeichnung der Waffenruhe und verhöhnte Armenien

Zur Wahrheit gehört auch: Von der armenischen Seite aus wurden in Aserbaidschan ebenfalls zivile Ziele getroffen, Menschen starben. Als ich den Präsidenten Armeniens damit konfrontiere, sagte er im BILD-Interview: „Wenn man wie Aserbaidschan auf diese Weise einen Krieg anfängt, denkt man, man könnte alle möglichen Arten von Waffen einsetzen, einschließlich der Luftstreitkräfte, Terroristen aus Syrien, türkische Militärausrüstung, türkische Drohnen und all dies. Erwarten Sie, dass die andere Seite höflich nichts unternimmt oder dass sie Jagdmesser benutzt?“

Die armenische Seite hat vielen internationalen Journalisten Interviews gegeben, es gab Zugang in die umkämpften Städte wie Stepanakert. Aserbaidschan dagegen ließ nur ausgewählte Journalisten einreisen und hinderte sie oftmals daran, von der Front zu berichten.

Mir wurde vom Präsidenten Aserbaidschans ein Interview per Video-Schalte zugesagt, aber kurzfristig wieder abgesagt – ganz offensichtlich aus Angst vor kritischen Fragen.

Ja, Bergkarabach gehört laut UN völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Aber reicht diese Tatsache aus, einen brutalen Krieg zu führen, der auf der Seite Armeniens tausende Opfer gekostet hat? Kann man damit den Einsatz brutalster Waffen begründen, wie den „Kamikaze“-Drohnen aus Israel? Ist damit schon erklärbar, warum die Welt, warum OSCE, EU, Nato nicht hinschauen wollten, als Menschen getötet wurden?

 

Während eines Bombenangriffs: BILD-Reporter Paul Ronzheimer im Gespräch mit armenischen Frauen in der Stadt Shushi am 6. Oktober

Im Keller von Karabach habe ich viele beeindruckende Menschen kennengelernt, die ihr Land lieben, die Frieden wollen, die aber Angst haben vor Vertreibung. Die Welt, die weggeschaut hat, muss zumindest JETZT hinschauen.

Dem Lügen-Präsidenten von Aserbaidschan ist nicht zu trauen, es braucht internationale Beobachter, die verhindern, dass Menschen in Bergkarabach ermordet und vertrieben werden.

Die Worte von Renterin Rita (72), die ich im Oktober in einem Keller in Karabach traf, werde ich nicht vergessen. Sie sagte mir: „Ich habe meinen Ehemann im ersten Krieg verloren. Jetzt erleben wir einen anderen Krieg. Nun sind meine Kinder, Schwiegersöhne, Enkelkinder im Krieg. Was wollen sie von uns, wieso greifen sie uns ständig an? Wann werden sie endlich verstehen, dass wir nie unser Land und Haus freiwillig verlassen werden? Was glauben sie, dass man mich in meinem Alter vertreiben kann?“

Die Menschen in Karabach wollen nicht gehen. Die Frage ist, ob man sie in Frieden lässt. Und ob uns weiterhin alles egal bleibt oder wir endlich hinschauen werden.

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