Zwei Aktivistinnen klären Mädchen über ihren Zyklus auf, schenken ihnen Binden – und verhindern so Schulabbrüche

03.02.2023 11:11

Kaum ein Mädchen im ländlichen Tansania lernt, was während der Menstruation mit dem Körper geschieht. Viele brechen deshalb aus Scham die Schule ab. Zwei Aktivistinnen bekämpfen Ahnungslosigkeit und Aberglauben.

Jeremiah hat seinen sandfarbenen Geländewagen an der Kreuzung abgestellt und wartet darauf, dass die Frauen ihm sagen, was zu tun ist. Es ist sechs Uhr morgens, die Straßen liegen noch still im blauen Dämmerlicht. Ruth Meriki und ihre drei Kolleginnen haben sich karierte Decken um die Schultern gewickelt, in den schiefen Bretterbuden unter den Eukalyptusbäumen glimmt Holzkohle, es riecht nach Rauch und den Esskastanien, die am Straßenrand über dem Feuer rösten.

Normalerweise fährt Jeremiah Safari-Touristen durch die Nationalparks im Norden Tansanias. Heute wuchtet er sperrige Pappkartons auf das Dach seines Jeeps. Sie sind befüllt mit Hunderten von Monatsbinden, die er gleich mitsamt der kleinen Reisegruppe von Arusha Richtung Karatu befördern wird – und von dort aus weiter durch das straßenlose, rostrote Hinterland, im Schritttempo, stundenlang. Als alle im Wagen sitzen, spricht Ruth ein Gebet. Amen. Dann geht es los.

Ruth Meriki, 36, ist eine große Frau mit tiefer, ruhiger Stimme. "Wir fahren nicht in diese abgelegenen Bezirke, weil es dort schön ist", sagt sie und streicht ihren wadenlangen Rock glatt. Den hat sie extra angezogen, weil Frauen in Hosen für die Menschen in den Dörfern befremdlich wirken könnten. Vor allem, wenn sie auch noch Unterhosen dabeihaben und ein anatomisches Schaubild weiblicher Genitalien. Auf ihrem Smartphone öffnet Ruth ein Dokument der Gesundheitsbehörde: Über 90 Prozent aller Mädchen in der Region, so das Ergebnis einer Umfrage, haben keinen Zugang zu Periodenprodukten. "Das ist verständlich. Wo und mit welchem Geld sollten sie auch welche kaufen?", sagt Ruth. "Viel schlimmer ist aber: Die Mädchen wissen nichts über die Menstruation. Auch das hat die Umfrage gezeigt. Niemand spricht mit ihnen darüber. Und mit den Jungs erst recht nicht."

Die Konsequenzen: Mädchen leiden stillschweigend, ihr Selbstbewusstsein knickt schon im Teenager-Alter ein – und viele brechen mit dem Beginn der Periode die Schule ab. Im Januar 2020 haben Ruth Meriki und die 35-jährige Hawa Kipilili darum die Organisation EPN gegründet. Die Buchstaben stehen für "Elle Peut – Naidim", was übersetzt "sie kann" bedeutet. Einmal auf Französisch und einmal in der Sprache der Massai. "Sie kann, sie kann", sagt Ruth lachend. "Das heißt, sie kann es wirklich!"

Ihr Ziel ist ehrgeizig: Sie wollen helfen, die 90 Prozent Unwissenheit zu beseitigen. Manchmal werde sie gefragt, warum sie sich angesichts der vielen Probleme des Landes ausgerechnet mit Menstruation beschäftige, sagt Ruth. "Aber wenn 90 Prozent der Mädchen nicht wissen, was Menstruation ist und wie man damit umgeht, haben wir später 90 Prozent Frauen, für die das Thema mit Verunsicherung oder Scham verbunden ist. Dieses Gefühl geben sie an ihre Töchter weiter."

Das wichtigste Mittel gegen die Scham sei Humor

Ruth Meriki hat Wirtschaft studiert, Hawa Kipilili Pädagogik. Gemeinsam haben sie ein Unterrichtsprogramm entwickelt, das mit abstrakten Begriffen wie "Menstruationshygiene" oder "Empowerment" nur schwer zu fassen ist. "Natürlich gibt es bereits solche Aufklärungskurse in Tansania", sagt Hawa Kipilili. "Aber die Zahlen zeigen, dass es offenbar noch nicht genug sind." Viele dieser Veranstaltungen liefen genau wie der Schulunterricht meist frontal und sehr theoretisch ab.

Hawa ist schmal und drahtig, eine Frau, der man anmerkt, dass ihr meist alles zu langsam geht. Früher hat sie an der britischen Schule in Arusha gearbeitet. Sie sah, dass Lehrerinnen und Lehrer aus dem Ausland ganz anders unterrichten, als sie es kannte, mit viel Spaß und Bewegung im Klassenraum. So wollte sie es auch für tansanische Kinder machen: "Ich habe mir vorgenommen, in den ärmeren Gegenden unseres Landes zu arbeiten. Dort, wo sie nicht mal wissen, wie ein Computer aussieht. Oder ein Fußball, weil sie bloß mit Kanistern kicken."

Das wichtigste Mittel gegen die Scham sei Humor: "Wir erklären das Thema mit extrem einfachen Worten und anhand von Situationen, die die Mädchen und Jungen kennen", erklärt Hawa. "Dort, wo sie leben, gibt es nun mal kein fließendes Wasser, keine Spiegel und auch keine Supermärkte. Es soll niedrigschwellig sein und Spaß machen. Wer uns zuhört, kann den Inhalt später mühelos weitererzählen."

Die Kurse enden immer mit einem Geschenk und einer kleinen Zeremonie: Jeder Junge überreicht einer Schulkameradin eine pinkfarbene Packung "Salama Pads", die das EPN-Team zu seinen Einsätzen mitbringt. Die auswaschbaren Binden werden in Tansania hergestellt, lassen sich wiederverwenden und kosten etwa einen US-Dollar pro Stück. Von Tampons und anderen westlichen Hygieneartikeln halten Ruth und Hawa nichts: "Zu teuer und zu viel Plastikmüll."

Mit Beginn der Periode sollen die Mädchen zuhause bleiben 

Zu der mobilen Aufklärungstruppe gehören außer den Gründerinnen noch Ruths Schwester Flora und Hafsa Mussa, die sich um die Evaluation des Projekts kümmern. Neben dem Fahrer sitzt Herison Phanuel. Ein sanfter, zurückhaltender Lehrer, Ruth und er wohnen in Arusha nicht weit voneinander entfernt. Er absolviert das Programm für die Jungs und gelegentlich auch für die Männer, die vorbeikommen. Damit sich alle trauten mitzumachen, sei es besser, wenn die Geschlechter getrennt unterrichtet würden. "Jungs wissen fast gar nichts über Menstruation", sagt Herison. "Sie werden nie einbezogen und kommen auch in den Lehrvideos nicht vor." Dabei seien sie doch Brüder oder später mal Väter. "Wenn sie verstehen, was los ist, ist ein Teil des Problems schon gelöst."

Im Rathaus von Karatu muss nun aber erst noch die Dame vom Amt abgeholt werden. Da es um Schulkinder geht, will die Behörde die Sache im Blick haben. Wie das Thema in Europa gehandhabt werde, möchte sie von den stern-Reporterinnen wissen. Bestimmt bekomme dort jedes Schulmädchen monatlich einen kleinen Koffer mit Produkten ausgehändigt. Leider müssen wir ihr positives Bild geraderücken. Auch in Europa sind das Phänomen der Periodenarmut – also zu wenig Geld für entsprechende Produkte zu haben – und die Stigmatisierung besonders bei jüngeren Frauen ein stillgeschwiegenes, aber verbreitetes Problem. "Ach", sagt die Frau von der Behörde. "Ts", sagt Ruth.

Hawa hat in Großbritannien studiert und einige Jahre in Spanien gelebt. Sie kennt die Geschichten von Frauen, die verdruckst was von Kopfschmerzen murmeln und aus dem Seminarraum verschwinden. In ärmeren Ländern seien die Folgen jedoch weitaus schlimmer: "Der Beginn der Periode ist wie ein Bremsklotz im Leben vieler Mädchen. Ihnen wird gesagt, dass sie lieber zu Hause bleiben sollen. Sie verpassen Unterricht und werden in die Hausarbeit eingebunden. Fehlende Bildung aber bedeutet im Erwachsenenalter Armut. Darum ist das Ganze kein Frauenproblem, sondern eines der gesamten Gesellschaft."

Laut Weltbank verlassen mehr als 120 000 tansanische Mädchen pro Jahr die Schule – und damit einen Ort, der sie vor sexuellen Übergriffen schützt.

Abgelegene Dörfer in Tansania sind das Ziel des Programms

Während des ersten Lockdowns ist in Tansania die Zahl der Teenager-Schwangerschaften sprunghaft gestiegen. "Zum Glück hat Präsidentin Samia Suluhu Hassan endlich die Vorschriften geändert!", sagt Ruth. Schwangere und junge Mütter haben nun die Chance, weiterhin am Schulunterricht teilzunehmen – zuvor war es gesetzlich verboten. Samia Suluhu Hassan ist seit März 2021 Präsidentin des Landes. Die erste Frau in dem Amt.

Draußen zieht die Landschaft vorbei, rotbraun und grün. Gerade als man denkt, endgültig in einer Gegend gelandet zu sein, in der es außer ein paar Jungs auf Motocross-Maschinen keine Menschenseele mehr gibt, parkt Jeremiah den Wagen an einem rechteckigen, ockerfarbenen Schulgebäude mit Blechdach. Dahinter stehen Schirmakazien, in ihrem Schatten sitzen artig an die 100 Mädchen auf Holzstühlen. Alle tragen Schuluniform: dunkelgrüner Pullover, gelbes T-Shirt, dunkelgrüner Faltenrock. Keine sagt etwas, nur ein paar kichern leise.

Im Lehrerzimmer erzählt die Direktorin, dass in den Klassenräumen noch viel mehr Mädchen warteten. Außerdem einige Mütter. Und natürlich die Jungs. Allmählich ahnt man, warum Ruth Meriki und Hawa Kipilili ihr Programm "einflussreich" nennen. Auf ihren Touren ins Hinterland unterrichten sie etwa 400 Kinder pro Schule. Je nach Entfernung und Möglichkeiten besuchen sie ein bis drei Orte am Tag. Das Ziel ist es, ein Netzwerk zu schaffen und lokale Gesundheitsämter, Lehrer oder Vertrauensleute aus den Dörfern so einzubinden, dass sie die Programminhalte langfristig selbst verbreiten und Lernziele auswerten können. "Wenn wir 500 Schülerinnen erreichen, erreichen wir in Wahrheit 1000", sagt Ruth. "Denn sie teilen das Wissen mit ihren Cousinen und Schwestern."

Die Dame von Amt wird an einen Holztisch unterm Baum platziert, Herison geht mit den Jungs erst mal Fußball spielen. Eine teambildende Maßnahme – später wird er ihnen sagen, dass sie Verantwortung für ihre Mitschülerinnen haben, so wie ein Kapitän für seine Mannschaft.

Das Tabu basiert auf Unwissenheit

Im Schatten der Akazie erzählen die Mädchen einander, mit welchen Menstruations-Märchen sie aufwachsen: Man darf während der Periode nicht kochen und sein Essen nicht salzen. Man wird schwanger, wenn man mit Jungs im selben Raum ist. Schmerzmittel machen unfruchtbar. Wenn man sich zu viel bewegt, fallen die inneren Organe raus. Der Geruch lockt gefährliche Tiere an. Oder lässt die Milch der Weidetiere sauer werden. Eine der Mütter sagt, dass sie lange Zeit gar nicht wusste, dass alle Frauen ihre Periode bekommen. Sie dachte, mit ihr stimme etwas nicht und sie werde bald sterben: "Wenn ich das jetzt so sage, muss ich selbst lachen."

Ganz still wird es unter dem Baum, als Ruth und Hawa die Produkte auspacken: Tampons, Binden, Menstruationstassen, Slipeinlagen mit und ohne Klebestreifen. Sie zeigen alles, was die Industrie zu bieten hat – und erklären den Mädchen, dass sie nichts davon brauchen. Armut führt nicht zwangsläufig zu Entzündungen und Infektionen. Lehmpfropfen, Federn oder dreckige Lappen hingegen schon. Die Schülerinnen lernen, wie sie den einfachen Baumwollstoff, den jede zu Hause hat, falten, kalt auswaschen und anschließend mit einem heißen Kohlebügeleisen glätten müssen, um Bakterien abzutöten. "Das hier", sagt Ruth und wedelt eine Stoffbinde durch die Luft, "benutzen Frauen überall auf der Welt. Es gibt keinen Grund, sich zu schämen, weil man nichts anderes hat." Einige Mütter blinzeln sich die Tränen weg.

Dann werden noch die wiederverwendbaren Pads erklärt, die man nur ausspülen und in der Sonne an der Wäscheleine trocknen muss. Aus ihren Befragungen wissen Ruth und Hawa inzwischen, dass das unter den Mädchen die beliebteste Lösung ist.

Die Tabuisierung habe nichts mit Religion oder traditionellen Schranken zu tun, sagt Hawa. "Die Eltern wissen einfach nicht, was sie sagen sollen." Es sei schlicht nicht üblich, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Auch daher rühre die Sprachlosigkeit. "Selbstreflexion, Sensibilität für das eigene psychische Wohlergehen – das kommt in den Familien kaum vor, und darum gibt es auch so gut wie keine Worte dafür." Deswegen sei sie nach ihrem Studium nach Tansania zurückgekommen. "Es gibt so viel zu tun."

"Ich will nicht mehr zusehen, was Mädchen durchmachen"

Zurück in Arusha, in dem kleinen Raum mit den fliederfarbenen Wänden, den Ruth vor drei Jahren angemietet hat: der Zentrale von EPN. Draußen krähen Hähne, Hawa sitzt am Computer, einer Leihgabe ihres Bruders, und tippt das Programm der vergangenen Tage in Excel-Tabellen – für die Berichte, die sie später an die Behörden schicken.

Ruth und Hawa arbeiten ehrenamtlich, ihre Organisation lebt von Spenden, die sie bei Kirchengemeinden, Unternehmen oder Einrichtungen wie dem Rotary Club einsammeln. "Ich laufe herum und frage nach Geld", sagt Ruth, "alles nur wegen der Periode, einer der normalsten Sachen der Welt." Sie habe sich entschieden, ihre Kraft und ihr Wissen dafür einzusetzen, weil es ein Problem sei, das sich eigentlich relativ leicht lösen lasse. "Man muss nur die Weichen anders stellen und ein paar wenige Dollar investieren. Starke Mädchen werden zu starken Frauen – genau die brauchen wir, damit unsere Gesellschaft vorankommt. Das ist doch kein Kleinkram!"

Ruth Meriki ist mit fünf Geschwistern in einer Massai-Siedlung bei Arusha aufgewachsen. Ihre Eltern wollten, dass auch die Töchter auf eine weiterführende Schule gehen. "Meine Mutter war immer eine zupackende, selbstbewusste Frau. Sie hat als Lehrerin gearbeitet und nebenbei Milch verkauft. Sehr fortschrittlich eigentlich. Aber über die Periode hat sie mit mir auch nicht gesprochen."

Ruth sagt, sie habe EPN auch deshalb gegründet, weil sie das alles selbst erlebt habe, die sandigen Baumwollfetzen und die Krankheiten. Dass es auch anders geht, hat sie erst später an der Highschool in Daressalam erfahren. "Die Mädchen in der Stadt haben ganz offen geredet! Die haben gesagt: 'Guck, das ist eine Unterhose, und das gehört da rein.'" Wenn sie aus der Hauptstadt nach Hause fuhr, brachte sie jedes Mal ein paar Pads für die anderen Mädchen mit. Später hat sie bei einem Safari-Veranstalter gearbeitet und die Binden auf Touren im weit abgelegenen Hinterland verteilt. "Meine Freunde sagten zu mir: 'Ruth, du bist besessen!' Dann hat Gott mir auch noch zwei Töchter geschenkt. Das war wie ein Zeichen. Ich will nicht mehr zusehen, was Mädchen durchmachen. Ich will, dass sich das ändert."

Auch Mütter machen den Töchtern Angst

Hawa Kipilili erzählt, dass ihr die Perioden-Verbote vor allem auf die Seele geschlagen seien. "Heute würde ich sagen: Ich wurde depressiv. Damals kannte ich das noch nicht." Sie war ein wildes Mädchen, die gesamte Kindheit über hatte sie mit ihrem Zwillingsbruder herumgetobt. Dann erzählte sie ihrer Mutter von dem Blut. Sie dachte, sie habe sich verletzt. "Meine Mutter schaute mich nur an und sagte: 'Ab jetzt spielst du nie wieder mit deinem Bruder. Du darfst nicht in der Nähe von Männern sein. Sonst kriegst du ein Kind.'"

Hawa war 14 und wusste nicht, wie sie das machen sollte. Jungs waren überall, auch zu Hause. "Ich habe mich in meine eigene Welt zurückgezogen. Ich war nicht mehr wild, ich bin nicht mehr um die Wette gelaufen, und wenn meine Brüder mich ärgerten, habe ich mich nicht mehr gewehrt. Ich hatte ständig Angst." Als ihre Eltern sich scheiden ließen, waren Hawa und ihre vier Geschwister auf sich allein gestellt. Ihr Vater war erschöpft von dem Streit, ihre Mutter nie da. "Ich wusste, wenn ich Geld verdienen will, muss ich an die Uni. Und das habe ich geschafft. In Tansania sind es oft die Frauen, die für die Ernährung der Familie sorgen. Viele Männer gehen weg, manche trinken. Darum ist es so wichtig, die Mädchen früh stark zu machen."

Seit Beginn des Programms haben die Frauen von EPN 16 500 Mädchen und 6200 Jungs unterrichtet. Zwei männliche Lehrkräfte sind gerade hinzugekommen. "Mehr Lehrer heißt, dass auch mehr Kinder teilnehmen können", sagt Ruth. Bis Ende 2024 wollen sie 45 000 Schülerinnen und Schüler mit ihrem Programm erreicht haben. Das ist das Ziel. "Sie kann, sie kann", sagt Ruth Meriki. Es klingt wie ein Zauberspruch.

 

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