Der freie Journalist Marut Wanjan, 40, lebt in Stepanakert, Hauptstadt der umkämpften armenischen Exklave Bergkarabach, die gestern von Aserbaidschans Armee angegriffen wurde. Seit heute Mittag herrscht ein Waffenstillstand. Doch die Menschen vor Ort sind tief verunsichert – und bitter enttäuscht von der ehemaligen Schutzmacht Russland.
Herr Wanjan, seit gestern lag Ihre Stadt unter aserbaidschanischem Beschuss. Nun schweigen die Waffen seit wenigen Stunden wieder. Wie ist die Situation?
Gegen 15 Uhr ist der Artilleriebeschuss zu Ende gegangen. Seit gestern Mittag und die ganze Nacht über hatte er angedauert. Ich habe dieses Geräusch bis jetzt in meinen Ohren.
Wie reagieren die Menschen?
Eine seltsame Ruhe ist eingekehrt. Die Kinder sind sogar aus den Kellern nach draußen gekommen. Die Menschen versuchen, zu sich zu kommen.
Wie ist die humanitäre Lage?
Die Lage war schon vor diesem eintägigen Krieg sehr schlecht. Wir konnten nur Brot kaufen, dafür standen wir in den Schlangen. Seit der Beschuss angefangen hat, sind alle Geschäfte geschlossen. Es ist noch schlimmer geworden. Tausende Menschen haben sich am Flughafen von Stepanakert versammelt, wo die Basis der russischen Friedenstruppen ist. Viele Dörfer wurden evakuiert, weil die Aserbaidschaner sie besetzt haben. All diese Menschen und auch Bewohner von Stepanakert sind jetzt dort. Ich habe gerade mit Verwandten von mir telefoniert, die dort sind. Sie sagen, dass es auch dort nichts gibt: keine Lebensmittel, keine Getränke. Das Rote Kreuz versucht aber zu helfen.
Wie halten Sie Verbindung zur Außenwelt?
Die Handyverbindung ist sehr schlecht. Ich wundere mich, dass wir jetzt überhaupt sprechen können. Auch mit dem Internet gibt es Probleme. Seit gestern gibt es fast keinen Strom mehr, das war aber schon vorher problematisch. Gas haben wir schon lange nicht mehr. Benzin hat nicht einmal mehr die Stadtverwaltung. Im Sommer gab es zwar in den Dörfern viel Obst und Gemüse, aber das konnten sie nicht in die Stadt bringen ohne Benzin. Manche brachten es mit Pferdekutschen hierher.
Gibt es Signale von Russland oder den Aserbaidschan, dass wie angekündigt ein Flucht-Korridor für Zivilisten nach Armenien geöffnet wird?
Bisher nicht. Es ist gerade erst bekannt geworden, dass es zu Verhandlungen mit den Aserbaidschanern kommen wird. Jetzt ist der Moment gekommen, wo die wichtigsten Fragen geklärt werden: Welchen Status wird Bergkarabach bekommen? In der offiziellen Mitteilung wurde gesagt, dass alle Waffen nach Armenien gebracht werden sollen. Was weiter geschehen wird, ist schwer zu sagen.
Wie nehmen die Bewohner von Stepanakert diese Entscheidung wahr – als Kapitulation?
Natürlich machen wir uns deswegen Sorgen. Aber gerade jetzt versuchen wir in erster Linie, zu uns zu kommen. Ich hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Stellen Sie sich das vor: 24 Stunden lang habe ich nur Artilleriebeschuss gehört.
Gab es Menschen, die versucht haben, in Richtung Armenien zu fliehen?
Ich sehe viele Menschen mit schweren Taschen und Koffern auf der Straße. Alle haben in den letzten 24 Stunden ihre Sachen gepackt und warteten. Sie vertrauen lieber auf ihre eigenen Kräfte als auf das Rote Kreuz, die Regierung oder die russischen Friedenstruppen. Ich weiß nicht, was die Menschen jetzt tun werden. Aber selbst, wenn sie jetzt fliehen wollten: Die Aserbaidschaner würden sie nicht so einfach von hier auf armenisches Staatsgebiet hinüberlassen.

Aserbaidschan hat in Botschaften an die armenische Bevölkerung von Bergkarabach erklärt, dass Zivilisten nichts zu befürchten hätten. Sind die bei Ihnen angekommen?
Ich habe so etwas nicht gesehen. Was ich aber mit meinen Augen gesehen habe, waren drei oder vier Artilleriegeschosse, die direkt ins Zentrum von Stepanakert geflogen sind. Ein Geschäft, ein Spielplatz und ein Wohnhaus wurden getroffen. Seit dem Krieg von 2020 sind die militärischen Positionen sehr nah an Stepanakert. Ich konnte die Kämpfe mit eigenen Augen sehen, aus Richtung der Stadt Schuschi, die vier Kilometer entfernt ist. Man hört hier sogar, wenn sie aus Kalaschnikows schießen.
Haben Sie Militärtechnik auf den Straßen von Stepanakert gesehen?
Nein. Es sind auch kaum Autos auf der Straße. Es gibt ja praktisch kein Benzin.
Wie viele Menschen sind jetzt noch in Stepanakert?
Vor drei Jahren gab es hier 75.000 Menschen, weil nach dem Krieg von 2020 viele Menschen hierher geflohen sind. Heute sind es vielleicht 50.000 Menschen.
Sie sind jetzt de facto umzingelt von der aserbaidschanischen Armee. Was erwarten Sie von der Außenwelt: von Armenien, von Russland, von der EU?
Das Wichtigste ist, dass die Straße nach Armenien wieder eröffnet wird. Das ist wichtiger als Lebensmittel und Medizin. Das ist unsere Straße des Lebens. Über diese Straße sind wir mit Armeniens Hauptstadt Jerewan verbunden. Seit diese Verbindung vor neun Monaten gekappt wurde, haben wir uns in eine Art Somalia verwandelt. Manchmal wird irgendwelche humanitäre Hilfe gebracht und gesagt: 'Hier, esst das in diesem Monat, danach schauen wir, was wir nächsten Monat bringen können.' Früher kam alles aus Armenien. Auch die freie Bewegung von Menschen zwischen Bergkarabach und Armenien ist sehr wichtig.
Könnten die aktuelle Krise den Anfang vom Ende der armenischen Präsenz in Bergkarabach bedeuten? Erwarten Sie, dass Aserbaidschan die Karabach-Armenier zur Flucht zwingen wird?
Alles kann passieren. Das wird jede Familie für sich entscheiden. Die eine wird sagen: Die Gräber unserer Angehörigen sind hier, wir können nicht weg. Eine andere wird sagen: Wir sind müde, wir müssen endlich weg. Nur: Wird es überhaupt die Möglichkeit geben, Bergkarabach zu verlassen?
Können Sie sich vorstellen, unter aserbaidschanischer Kontrolle zu leben?
Ich weiß nicht, wie die Umstände sein werden. Ich bin ein Mensch, der die Freiheit liebt. Ich will, dass es vor mir keine versperrten Wege gibt, inklusive des Wegs nach Europa. Warum soll mir irgendjemand den Weg versperren? Wenn ich nach Jerewan fahren will, habe ich das Recht dazu. Was jetzt passiert ist, ist für uns wie ein Erdbeben. Alle verstehen, dass es jetzt eine scharfe Wendung geben wird. Vielleicht sogar in eine positive Richtung?
War den Menschen in Bergkarabach in den vergangenen Jahren bewusst, dass es erneut zu einem Krieg kommen könnte?
Natürlich nicht. Als die russischen Friedenstruppen hierherkamen, freuten die Menschen sich. Manche dachten, dass die Russen für immer bleiben würden, dass nun alles gut werden würde. Aber schon nach einem Jahr kehrte Ernüchterung ein, und am Ende kam es zur Schließung des Latschin-Korridors nach Armenien. Die Menschen sind enttäuscht, dass die Russen das zugelassen haben.
Die Armenier sind jetzt wütend, dass die Russen Bergkarabach nicht geschützt haben?
Es gibt auch heute noch Leute, die meinen, dass die Russen der einzige Garant unserer Sicherheit sind. Sie fragen: Wenn die Russen gehen, kommen dann etwa deutsche, französische oder amerikanische Soldaten, um sich zwischen uns und die Aserbaidschaner zu stellen? Aber viele sagen jetzt auch: Warum haben die Russen nicht Wort gehalten? Es gab im Frühjahr eine Protestaktion, da trugen die Menschen Plakate mit Aufschriften wie: "Putin, halte Wort."
Gibt es Nachrichten über Gräueltaten der Aserbaidschaner?
Das, was bis jetzt passiert ist, kann man nicht vergleichen mit dem Krieg von 2020. Es gab schwere Kämpfe, aber ich nehme an, dass es die meisten Toten aufgrund von Artilleriebeschuss gab. Die traurigste Nachricht, die wir erwarten, ist die wirkliche Zahl der Opfer. Bis jetzt gab es nicht einmal Zeit, die Toten zu zählen. Ich habe eine Zahl gehört, aber die will ich jetzt nicht nennen.
Liegt sie bedeutend höher als die bisher offiziell genannten Zahlen von 32 Toten und etwa 200 Verletzten?
Ja, leider.
Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich hoffe, dass endlich diese Straße nach Armenien geöffnet wird, dass wieder Menschen zu uns kommen können. Dass Bergkarabach aufhört, ein Gefängnis unter offenem Himmel zu sein.
Und was denken Sie daran ?