Nach der Niederlage im Ein-Tages-Krieg verkündet die selbsternannte Republik Bergkarabach (Arzach) ihre Auflösung. Das Recht des Stärkeren hat gesiegt – und die Welt zuckt kaum mit den Schultern.
Bergkarabach wird aufgelöst. Eine kleine, demokratische Republik, die sich selbst "Arzach" nannte und die bis zum Schluss um Anerkennung und ums Überleben kämpfte, existiert schon bald nicht mehr. Doch sie wird sich nicht – schwupps – wundersamerweise in Luft auflösen. Was mit dem Ende Bergkarabachs einhergeht, ist ein Exodus der dort lebenden armenischen Bevölkerung, die Menschen fliehen vor den Truppen Aserbaidschans, einer öl- und gasreichen Diktatur, die seit Jahrzehnten Anspruch auf die bergige Region erhebt. Schon sehr bald wird das armenische Leben dort Geschichte sein. Das Recht des Stärkeren hat gesiegt. Diplomatie und Demokratie wurden niedergetrampelt.
Die Republik Arzach, gegründet nach dem ersten Bergkarabach-Krieg in den 1990er Jahren, war das Symbol der Selbstbestimmung der Armenierinnen und Armenier, die diese Region seit der Antike besiedeln und dort durchgehend die Mehrheit bildeten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kurz nach Gründung der Sowjetunion, schlug Diktator Josef Stalin aus geopolitischen Gründen das Gebiet der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu, gegen den Widerstand der armenischen Bevölkerung.
Ende der 1980er Jahre gingen die Armenier Bergkarabachs und Armeniens massenhaft auf die Straße und demonstrierten für – ja, wirklich – Einigkeit und Recht und Freiheit. Diese Massenproteste lösten in Aserbaidschan Unmut aus, es kam zu Eskalationen: Sowohl in Aserbaidschan als auch in Bergkarabach und Armenien gab es grauenhafte Pogrome auf beiden Seiten, sowie Vertreibungen. Es wurde das Kriegsrecht verhängt.
Dann passierte sehr vieles gleichzeitig: Die Sowjetunion zerfiel, und die Unionsrepubliken im Kaukasus erklärten ihre Unabhängigkeit: Darunter Armenien, Aserbaidschan … und am 3. September 1991 auch Bergkarabach. Da war der erste blutige Karabach-Krieg schon in vollem Gange: Die neu gegründete Armee Bergkarabachs brachte nicht nur die umstrittene Region, sondern auch angrenzende aserbaidschanische Gebiete als eine Art "Pufferzone" unter ihre Kontrolle. Der Krieg endete 1994 mit einem Waffenstillstand, rund 50.000 Toten und mehr als einer Million Vertriebenen.
Ein "kalter Konflikt", der vor sich hin glühte
Der Bergkarabach-Konflikt wurde jedoch nie vollständig gelöst, nur auf Eis gelegt. Denn zwei Grundprinzipien des Völkerrechts standen sich gegenüber: Hier das Selbstbestimmungsrecht der Völker – dort die territoriale Integrität eines Staates. Da UN-Resolutionen, etwa zur armenischen Besetzung der Grenzregionen, nicht bindend waren, wurde die eigens gegründete "Minsk-Gruppe" der OSZE beauftragt, das Dilemma auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu einer Einigung kam es nie.
Die de-facto-Republik Bergkarabach wurde zwar von keinem Land der Welt anerkannt, auch nicht von Armenien – die dort lebenden Menschen bauten sich allerdings eine Demokratie auf: Mit einer eigenen Verwaltung, einem eigenen Parlament, eigenen Staats- und Regierungschefs und eigenen Wahlen, die auch ausländische Beobachter als fair und den internationalen Standards entsprechend bewerteten. 2017 benannte sich Bergkarabach in "Republik Arzach" um, angelehnt an den antiken armenischen Namen für dieses Gebiet. Doch Aserbaidschan gab den Plan, Bergkarabach zu erobern, nie auf. Der "kalte Konflikt" glühte in Wahrheit vor sich hin: Es gab über drei Jahrzehnte hinweg immer wieder militärische Angriffe in den Grenzregionen.
Bergkarabach: Das Symbol der Selbstbestimmung ist am Ende
Im Jahr 2020, als die ganze Welt mit der Corona-Pandemie und den Wahlen in den USA beschäftigt war, schaffte das hochgerüstete Aserbaidschan militärische Tatsachen: Im 44 Tage andauernden zweiten Bergkarabach-Krieg nahm es die an Arzach angrenzende "Pufferzone" ein, eroberte die strategisch und kulturell bedeutende Stadt Schuschi und konnte nur noch durch einen von Russland vermittelten Waffenstillstand davon abgehalten werden, ganz Bergkarabach zu überrennen.
Zahlreiche Kriegsverbrechen wurden dokumentiert. Konsequenzen? Keine. In und um Bergkarabach wurden dafür 2.000 russische Soldaten (die sich selbst "Friedenstruppen" nannten) stationiert. Sie sollten den Waffenstillstand sichern und Armeniern ermöglichen, sich ungehindert zwischen der Republik Armenien und Bergkarabach zu bewegen. Ein erfolgloses Vorhaben: Ende 2022 blockierte Aserbaidschan den Latschin-Korridor – die einzige Straße, die Bergkarabach mit Armenien und der Außenwelt verbindet – für neun Monate. Und am 19. September zwang es die ausgehungerten und geschwächten Armenier in einem 24-Stunden-Krieg zur Kapitulation. Das Ergebnis: Ein Massenexodus der armenischen Bevölkerung und die Auflösung eines demokratischen Staatsgebildes, das so verzweifelt versucht hatte, ein Symbol der Selbstbestimmung zu sein.
All das wäre vermeidbar gewesen, hätten sich einflussreiche Staaten um eine diplomatische Lösung bemüht. Kann es sein, dass niemand mitbekommen hat, was mit den in Bergkarabach lebenden Armenien passiert? Nein. Hinweise, Warnungen und Hilferufe gab es genug. So betonte der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Luis Moreno Ocampo immer wieder, dass ein Genozid in Bergkarabach unmittelbar bevorstehe. Auch NGOs und Hilfsorganisationen forderten die Weltmächte dringend auf, zu handeln – bevor es zu spät sei. Doch außer vorsichtigen Worten der "Besorgnis" und zahnlosen Appellen passierte: Nichts. Auch und gerade von Seiten der Europäischen Union. Jetzt ist es zu spät, und der Welt ist es egal.
Und was denken Sie daran ?