Fotograf Günther Menn wollte Menschen eine Stimme geben, die sonst nie gehört werden. Für den stern war er oft im Einsatz - vor allem Afrika lag ihm am Herzen. Im Juli verunglückte er mit seinem Motorrad tödlich – auf einer Autobahn in Italien. Erinnerungen an einen Rastlosen.
Von Joachim Rienhardt
Das letzte Bild, das der Fotograf Günther Menn bewusst vor Augen hatte, stammte aus der italienischen Provinz, Staatsstraße SS69, 100 Kilometer östlich von Neapel. Vermutlich reizte selbst ihn nichts, auf den Auslöser zu drücken, obwohl er nahezu süchtig war, von jeder Situation das beste Foto zu machen.
Vorne mahnte ein Tempo-40-Schild zur Vorsicht, Blinklichter warnten vor einer scharfen Rechtskurve, hier beginnt die Autobahn A3, die bis an die Südspitze der italienischen Halbinsel führt. Von der Betonwand rechts fledderten Plakate.
Es war Freitag, 17.36 Uhr. Günther Menn befand sich auf dem Rückweg aus Afrika. Knapp vier Jahre hatte er den gesamten Kontinent durchquert auf seiner voll bepackten BMW F 800 GS, das Motorrad wog 500 Kilo. Unter dem Windschild prangten die Spitze eines Himba-Speers sowie aus Holz geschnitzte Masken in Form eines Gepards und eines Zebras. Der Name seiner Projektreise klebte über dem Tank: NOmadsLand.
An diesem Freitag blieb ihm das Glück versagt
Günther Menn hatte dafür 80.000 Kilometer in Afrika abgespult, um das Leben der letzten Nomaden zu dokumentieren. Er wollte mit diesen Geschichten jenen eine Stimme geben, die sonst nie gehört werden. "Bilder gegen das Vergessen", nannte er sie.
Günther Menn hat immer gepredigt, dass ein Bruchteil einer Sekunde über ein gutes Foto entscheiden kann. In der ganzen Zeit in Afrika gab es etliche Situationen, in denen ihm der Bruchteil einer Sekunde auch das Leben rettete.
An jenem Freitagnachmittag an der italienischen A3 blieb dem Fotografen das Glück versagt. Ein entgegen kommender Pandafahrer mit 2,8 Promille schoss unvermittelt quer über die Fahrbahn und rammte von der Seite in sein Motorrad. Günther Menn blieb nicht einmal Zeit zum Bremsen. Er starb mit dem Wissen, dass sein Projekt abgeschlossen war. Zeigen konnte er sein Lebenswerk niemandem mehr.
"Es ist eine Glut, die nie verglüht": Erinnerungen an stern-Fotograf Günther Menn
"Er war einer der ganz großen deutschen Fotografen und davon gibt es nicht viele", sagt Wolfgang Behnken, langjähriger Art-Direktor des stern. Behnken hatte Günther Menn Anfang der 1990er Jahre zum stern geholt. Der hatte schon damals seine langen, braunen Haare zum Zopf gebunden, trug wie immer weißes Hemd mit Weste, Jeans, Stiefel, rauchte filterlos und roch angenehm nach L´Homme, seinem Parfüm von Versace.
Man hätte ihn für einen raubeinigen Macho halten können. "Aber er war sensibel, zurückhaltend, in seiner Bescheidenheit fast naiv", sagt Behnken. "Vor allem hatte er ein riesiges Talent, optisch zu erzählen." Behnken schwärmt von der "ungeheuren Wucht" seiner Bilder. "Aber Günther war viel zu bescheiden, sich die Aura eines großen Stars zuzulegen. Er war unprätentiös, nicht verbogen, engagiert und ein ungeheurer Menschenfreund. Er war der geborene Reporter."
"Man muss das erzählen"
Eine ungeahnte Karriere für einen Kaufmannsohn, der sein Leben zunächst eigentlich den Pferden widmen wollte. Günther Menn hatte bereits mit der Ausbildung zum Bereiter bei einem namhaften Gestüt in Garmisch-Partenkirchen begonnen. Doch die Vorstellung, ein Leben lang die Pferde von Millionären zu trainieren, ließ sich nicht mit seiner Sehnsucht nach Freiheit vereinbaren.
Günther Menn, der schon als Jugendlicher mit seinem getunten Mofa, einer Peugeot 103, vom heimischen Saarbrücken bis nach Paris gefahren war, machte sich mit dem Motorrad auf große Tour. Er durchquerte die Sahara, fuhr weiter Richtung Kapstadt. Er war bewegt davon, was er sah. Unterwegs, in Kenia, beschloss er, Fotograf zu werden. "Man muss das erzählen", sagte er.
Zuletzt im Oktober sind Freunde wie seine Jugendfreundin und langjährige Reisepartnerin Griseldis Münchow zum Unfallort gereist. Sie hat eine große Sonnenblume an die schwarz verkohlte Doppelleitplanke gebunden, an der sein Motorrad senkrecht zum Stehen kam und sofort Feuer fing. Der Asphalt ist großflächig schwarz verbrannt. "Der Panda war mit Gas betrieben. Der Tank ist sofort explodiert. Es war ein Inferno", sagt sie.
Unter der Sonnenblume liegt eine der Packtaschen aus Aluminium, eingeschmolzen zu einem kleinen Klumpen, im Unkraut Batterien, Teile vom Blitzgerät, Kameras, Inbus-Schlüssel, Nagelfeile, angebrannte Landkarten und verkohlte Zeltstangen. Jeder der Freunde, die hierher kommen, sucht etwas, was es nicht mehr gibt.
Mit Günther Menn starb ein Fotograf, der sich mit einer außergewöhnlichen Hingabe seiner Profession widmete. Schon als Student, noch zu Zeiten der Analogfotografie, stand er oft bis weit nach Mitternacht im Labor der Kunsthochschule Kassel. Wann immer er dort auch früh morgens noch Licht brannte: Professor Gunter Rambow, wusste, dass es sein Lieblingsschüler war, der dort an Abzügen von Schwarz-Weiß-Bildern werkelte, bis sie ihm perfekt erschienen. Günther Menn schloss mit Summa cum laude ab.
Günther Menn ließ den Menschen ihre Würde
Schlaf hielt er für überbewertet. Vier Stunden genügten ihm meistens. Aufstehen, vier, fünf Espressi, dazu mindestens so viele Zigaretten – Günther Menn hat sich für seine Geschichten aufgeopfert, geradezu darin gelebt. Er wollte die Menschen begreifen, denen er sich mit seiner Kamera näherte. Er tat dies mit bewundernswerter Behutsamkeit, oft unter widrigen Umständen. Doch meist mit dem Erfolg, dass die Menschen ihm vertrauten und sich für ihn öffneten. Er hat das nie missbraucht. Er hat den Menschen ihre Würde gelassen – egal, ob er Obdachlose fotografierte, misshandelte Kinder oder Kriegsopfer.
Günther Menn war ein äußerst diskreter Mensch. Selbst sein eigenes Alter war nur engen Freunden bekannt. Loyalität war sein oberstes Credo. Er hat Bilder für sich sprechen lassen. Nie hätte er ausgeplaudert, was man ihm anvertraut hatte. Nachfragen waren zwecklos. Dann hat er nur seinen Zeigefinger auf seine Lippen gelegt, als würde er seinen Mund versiegeln. Hatte er aber Vertrauen gefasst und es ging darum, andere zu überzeugen, dann sprudelte er los.
Oft widmete er sich wochenlang einem Thema. Er zweifelte an jedem seiner Fotos. Bilder, die er meinte, versäumt zu haben, brachten ihn um den Schlaf. Seine Recherchen und Gespräche halfen oft den Text-Kollegen, den "Schreibern", wie Günter Menn die Autoren nannte, die mit ihm reisten. Oft zog er alleine los, kam mit Vorschlägen zurück: "Mit dem musst du unbedingt noch reden. Soll ich dir mal die Nummer geben?"
Günther war ein Einzelkämpfer, aber auch ein Mann fürs Team. Auch deswegen war er bei den schreibenden Kollegen sehr beliebt. Für die Artdirektion war er eine sichere Bank, weil er selbst dort grandiose Bilder machte, wo es eigentlich nichts zu fotografieren gab. Pausen? Fehlanzeige. "Urlaub?", fragte Günther Menn ab und zu. "Ich weiss gar nicht, was das ist."
Dann ging es weiter. "Allez hopp", war sein Kommando zum Aufbruch. "Es ist eine Glut, die nie verglüht", hat er selbst über seine Leidenschaft gesagt.
Von Krisenherd zu Krisenherd
Die Chefin der Agentur Focus hat Günther Menn während seiner gesamten Karriere begleitet. Sie schätzte an ihm, dass er nicht nur besondere Bilder machen, sondern etwas erzählen wollte. Sie spürte, wie er sich danach sehnte, sich den Themen möglichst ausgiebig zu widmen. "Sein Wunsch war es, etwas zu machen, was bleibt", sagt seine Jugendfreundin Griseldis Münchow. Zu fotografieren ohne Limit, bis man selbst das Gefühl hat, auch wirklich fertig zu sein.
"Wir waren selbst wie Nomaden unterwegs"
Seine Freundin Rea la Greca half ihm, sein Projekt NOmadsLand zu konzipieren. Ursprünglich sollte es nur um den Stamm der Himba in Namibia gehen. Ihre Existenz ist durch den Bau eines Wasserkraftwerkes in Gefahr. Er hat immer weiter recherchiert und bald war klar, dass er das Projekt auf viele weitere Nomadenstämme in ganz Afrika ausdehnt. Dann hat er seine Lebensgefährtin gefragt, ob sie mit kommen möchte. Und als sie einschlug, sagte er: "Aber nur mitfahren geht nicht." Die Freundin übernahm die Video-Dokumentation.
Alles was sie hatten, war auf dem Motorrad verstaut. Jeder nahm nur ein Paar Schuhe mit. Die Stiefel waren meist nass, weil es oft galt, ein Bachbett zu durchwaten, um zu prüfen, ob es passierbar ist. In den Packtaschen blieb neben Zelt, Kocher und Kameras nur Platz für eine Hose zum Wechseln. Ersatzteile, Werkzeug und Wasserflaschen, waren in Pferdetaschen am Tank verstaut, 10.000 Dollar in bar als Notreserve im Rahmen versteckt. "Wir waren selbst wie Nomaden unterwegs. Das hat Nähe zu den Menschen geschaffen", hat Günther Menn selbst gesagt.
Immer tiefer drangen sie in deren Welt vor. Günther Menn wunderte sich, wie schwer es war, Interesse in den Redaktionen zu wecken für die Dramen, deren Augenzeuge sie wurden. "Ich fühle mich wie ein Boxer, der aus der Zeit gefallen ist", sagte Günther Menn eines Abends am Feuer in Namibia. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Jeden Cent, den er hatte, steckte er in sein Projekt. Geld, das er am Ende nicht mehr hatte, streckte seine Schwester Petra vor.
Je mehr sie Richtung Norden kamen, umso mehr mussten sie ihre Reiseroute den aktuellen Krisen anpassen. Etliche Länder, die ursprünglich auf ihrer Liste standen, waren gar nicht mehr zu bereisen: Im Süd-Sudan und der Zentralafrikanischen Republik herrschte Bürgerkrieg, Teile Kenias wurden wegen Bombenanschlägen der al-Shahaab-Miliz gestrichen. Mal galt es, auf das Visum für das nächste Zielland zu warten, mitunter wochenlang. Mal zwang sie die einsetzende Regenzeit zur Änderung der Route, immer auf der Spur der Nomaden.
Nur zu den Victoria-Fällen sind sie aus touristischen Gründen gereist. Nachts schlitzten dort Räuber ihr Zelt mit Rasierklingen auf. Die flüchteten mit den Taschen, in denen nicht nur sämtliche Ersatzteile sondern auch das gesamte Werkzeug verstaut gewesen war. Wieder waren sie verdammt zu wochenlangem Warten, bis Nachschub aus Deutschland kam.
Eine Vorahnung? Günther Menn schrieb sein Testament
Doch so stießen sie auf eine grandiose Reportage über Schmuggler, die in Sambia ihre schrottreifen Fahrräder mit 250 Kilo Maismehl beluden, um es nachts über die Brücke nach Simbabwe zu schaffen. Sie begleiteten sie zu Fuß, plötzlich standen sie im grellen Scheinwerferlicht schwer bewaffneter Grenzbeamter. Günther Menn hat selbst oft versichert, auf der ganzen Reise nie Angst gehabt haben. Aber in dieser Nacht war auch ihm nicht ganz wohl zumute.
Damals hatten sie bereits Zehntausende von Fotos und viele Stunden Video-Material. Doch Günther Menn wollte sein Projekt zu Ende bringen, obwohl er möglicherweise eine dunkle Vorahnung hatte: Am 28. Juli vergangenen Jahres verfasste er sein Testament. Umkehr war für ihn nie eine Option. Günther Menn fuhr auch weiter, als er sich am Turkana See nach einem Sturz den Fuß des rechten Beins gebrochen hatte. Der Rückweg wäre so beschwerlich gewesen, wie das, was vor ihnen lag. Nur der Stiefel stabilisierte den gebrochenen Fuß. es ging über scheinbar endlose Sandpisten, bis sie zu einem Behelfskrankenhaus kamen. Sanitäter konnten dort lediglich Verbände anlegen.
Erst vier Wochen später, nach ewiger Fahrt bis in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, gönnte er sich eine Pause. Auf dem Weg weiter in den Sudan machte schließlich die Benzinpumpe schlapp. Anfangs ging die Maschine alle 50 Kilometer aus, kurz vor Karthum alle 50 Meter. Drei Wochen mussten sie auf das Ersatzteil warten. Im Land herrschte Ausnahmezustand. Es gab kein Benzin, das Thermometer stieg auf 50 Grad. Dazu kamen schlechte Nachrichten aus der Heimat. Seine Freundin musste aus familiären Gründen nach Hause. Sie brach die Reise ab.
Günther Menn fuhr allein zunächst immer den blauen Nil entlang, dann sollte es durch die Wüste Saudi Arabiens gehen. Er hielt an dem Plan fest, obwohl es Hochsommer war – viel zu heiß, um Menschen anzutreffen, über die er hätte berichten können. Keiner weiß, was er noch fotografiert hat, weil bei seinem Unfall später die Kameras mit all den Speicherplatten verbrannten.
Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun
In Saudi-Arabien zwangen ihn Hitze und Sandstürme zur Umkehr. Günther Menn wählte eine Route über Jordanien und Arabien Richtung Israel. An der Grenze fuhr er durch ein unabsichtlich offen stehendes Tor. Er sei froh gewesen, schrieb er später, nicht erschossen worden zu sein. Doch nach der Leibesvisitation reichte ihm der Grenzsoldat seinen Pass mit freundlichen Worten: "Happy Birthday." Es war Günther Menns letzter Geburtstag.
Schon wenige Tage später kreiste der Rettungshubschrauber über der Unfallstelle an der A3. Es dauerte gut 20 Minuten, bis der Verkehr von und zur Autobahn gestoppt war und der Helikopter endlich landen konnte. Günther Menn lag schwer verletzt auf dem Asphalt. Er sprach viel. Aber keiner der italienischen Nothelfer verstand, was er ihnen sagen wollte.
Günther Menn war nicht mehr bei Bewusstsein als er im Universitätskrankenhaus von Salerno eingeliefert wurde. Die Ärzte dort konnten nichts mehr für ihn tun. Günther Menn wurde mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik nach Neapel geflogen. Er starb 15 Minuten nach Mitternacht.
Nach seiner Rückkehr, sagen enge Freunde, wollte Günther Menn sein Leben grundlegend ändern.
Günther Menn war elf Jahre alt als sein Vater starb. Vielleicht, so sagen Freunde, hatte seine Ruhelosigkeit mit diesem frühen Verlust zu tun. Vielleicht hatte er Angst, dass auch ihm nicht genügend Zeit bleiben würde, die Welt zu begreifen, das Leben.
Vor allem Afrika faszinierte ihn. Sein erstes großes Fotoprojekt zeigte die Flucht von Senegalesen Richtung Europa. Die Bilder brachten ihn zum stern.
Für seine Dokumentation über das Leben einer Salzkarawane in Mali wurde er beim renommierten Fotofestival in Perpignan geehrt. Immer wieder zog es ihn auf den Kontinent. Am liebsten mit dem Motorrad, weil man den Menschen viel näher kommt bei dieser Art zu reisen.
Vor allem für den stern war Günther Menn bis dahin rund um den Globus gereist. Afghanistan, Angola, Balkan, Irak, Haiti, Kolumbien – Günther Menn reiste von Krisenherd zu Krisenherd. Einmal, in Burma, ist er mit Glück Seepiraten entkommen, die ihn entführen wollten. In New York stieg er mit schwindelfreien Indianern auf Gerüsten an Wolkenkratzern hoch. In Neapel, bei einer Geschichte über die Mafia, konnte er gerade noch seine Verhaftung verhindern. "Je gefährlicher ein Job war, desto mehr hat es ihn gereizt", sagt Margot Klingsporn, seine langjährige Agentin. "Er war eine Mischung aus Abenteurer und extrem gutem Fotografen. Das hat ihn ausgezeichnet und den Unterschied gemacht."
Und was denken Sie daran ?