Ex-Premier Boris Johnson muss derzeit Rede und Antwort stehen zu seiner Zeit als Premierminister während der Covid-19-Pandemie. Sein Auftreten überraschte dabei manche, seine Aussagen ebenso.
Das Wichtigste zuerst: Boris Johnson hat seinen Friseur nicht gewechselt. Vor dem Covid-19-Untersuchungsausschuss in London erschien er gestern wie immer mit seinem Markenzeichen, dem augenscheinlich mit einem Luftballon gekämmten, weißblonden Schopf.
Doch der Boris Johnson unter der Haartracht war ein anderer. Seine übliche polternde Art hatte er durch einen überzeugend gespielten Ernst und eine Getragenheit ersetzt, ganz so, wie es der Anlass erforderte. Schließlich sollte der Ex-Premier vor dem Untersuchungsausschuss die Wahrheit sagen, auch wenn Johnson zu der bekanntlich ein eher loses Verhältnis pflegt. Er musste sogar einen Eid auf die Bibel schwören – für Johnson die erste von vielen Herausforderungen eines langen Tages.
Der Ausschuss, der seit Juni die Corona-Politik der britischen Regierung unter Johnson aufarbeitet, hörte in den vergangenen Wochen Zeugenaussagen von Wissenschaftlern, Ministern und Regierungsmitarbeitern, unter anderem vom früheren Gesundheitsminister Matt Hancock und Johnsons legendärem Berater Dominic Cummings. Letzterer wie auch eine Reihe von kompromittierenden WhatsApp-Nachrichten aus den chaotischen Tagen der Pandemie sorgten dafür, dass bereits vor Johnsons großem Auftritt viel über seinen Regierungsstil bekannt war. Dennoch lernten auch langjährige Beobachter des Ex-Premiers gestern noch ein paar Dinge dazu.
Erkenntnis eins: Boris Johnson steht früh auf, wenn's drauf ankommt
Bereits drei Stunden vor Beginn seiner Anhörung traf er am Dorland House im Westen Londons ein, die blonde Mähne unter einer dicken grauen Pudelmütze versteckt. Johnsons Anhänger legten seine Überpünktlichkeit als Gewissenhaftigkeit aus, er wolle nun mal gut vorbereitet sein für diesen wichtigen Termin. Seine Kritiker vermuten eher, dass er damit vermeiden wollte, den vor dem Eingang protestierenden Angehörigen von Covid-Opfern in die Augen sehen zu müssen.
Erkenntnis zwei: Johnson hat keine Ahnung, wie sein Handy funktioniert
5000 WhatsApp-Nachrichten aus dem für die Anhörung kritischen Zeitraum von Januar bis Ende Februar verschwanden spurlos von Johnsons Telefon, stellte Anwalt Hugo Keith fest, der das Kreuzverhör leitete. "Warum konnten sie nicht wiederhergestellt werden?", fragte er Johnson. Das habe "irgendwas mit der App zu tun", antwortete dieser vage. Keith hatte eine andere Theorie: Das Handy sei irgendwann auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt worden. "Ich habe das nicht gemacht, ich habe keine Ahnung, wie das geht", versicherte der frühere Premier. Wahrscheinlich staunt er heute selbst darüber, dass ihm einst die Atomwaffencodes anvertraut worden waren.
Erkenntnis drei: Keiner beherrscht die Kunst der unaufrichtigen Entschuldigung so gut
Fehler seien gemacht worden in der Pandemie, hatte Johnson in seiner schriftlichen Zeugenaussage etwas generisch eingeräumt. Für die entschuldige er sich "vorbehaltlos", schrieb er großmütig. Hugo Keith war das suspekt. "Welche Fehler waren das genau, für die Sie sich entschuldigen?", wollte er wissen. An der Stelle verfiel Boris in seinen bewährten Schwafel-Modus. Nun ja, die Kommunikation beispielsweise, sagte er ausweichend, die sei in Schottland anders gewesen als in England, das müsse man in Zukunft besser organisieren.
Keith ließ nicht locker. "Welche Kommunikation meinen Sie genau?" – "Naja, es sind ja leider Leute gestorben", so Johnson weiter, aber es sei auch eine schwierige Situation gewesen, vielleicht habe man Fehler gemacht – "aber ich will Ihre Fragen nicht vorausnehmen", fügte er hastig hinzu. Bloß keine freiwilligen Eingeständnisse, das wäre ja noch schöner.
Erkenntnis vier: Wer braucht Berater?
"Woher sollten wir wissen, welche Ausmaße so eine Pandemie annimmt?", antwortete Johnson auf die Frage, warum die britische Regierung den ersten Lockdown erst mehr als zehn Tage nach den westeuropäischen Nachbarn anordnete, trotz alarmierender Nachrichten aus China und Italien. Schließlich sei die letzte große Pandemie ein Jahrhundert her gewesen, erklärte er. Elegant ließ Johnson dabei außen vor, dass er als Premierminister von etlichen Experten aus der Wissenschaft umgeben gewesen war – und dass Experten auf dem Gebiet von Pandemien schon Wochen vorher all das vorhergesagt hatten, was bald später eintreten sollte. Selbst die stoische Richterin Heather Hallett konnte sich an dieser Stelle einen ungläubigen Seitenblick Richtung Johnson nicht verkneifen.
Erkenntnis fünf: Long Covid? Nur "Bullshit"
Boris ist einer vom alten Schlag, so wie sein Idol Winston Churchill, nur fehlt ihm leider dessen strategisches und politisches Talent. Seine Landsleute hält er für zimperlich, über Covid-Risikogruppen, also Menschen mit Vorerkrankungen und Senioren, schieb er in einer Notiz, sie seien "sowieso schon auf der Zielgeraden" gewesen, und man könne doch dieser Leute wegen nicht die Wirtschaft ruinieren.
Noch im März 2020 glaubte Johnson, die Pandemie sei "kein großes Ding" und eher vergleichbar mit der Schweinegrippe. Als er dann doch begriffen hatte, mit einer Jahrhundert-Pandemie konfrontiert zu sein, schwankte er wild zwischen einer Herdenimmunitäts-Strategie und der Rettung des maroden staatlichen Gesundheitssystems NHS. Long Covid bezeichnete er als "Bullshit". Wichtige Regierungsentscheidungen wurden oft eigenmächtig von Johnson und Cummings gefällt, das Regierungskabinett erfuhr mitunter erst am Tag nach der Verkündung davon. Die Atmosphäre im Regierungssitz 10 Downing Street war derart chaotisch und toxisch, dass der Stabschef Schwierigkeiten hatte, talentiertes Personal zu rekrutieren.
Weitere Erkenntnisse dürften folgen. Schon am Donnerstag geht die Befragung von Johnson weiter.
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