Viele Menschen fühlen sich gestresst, getrieben, leben in Zeitnot. Der Soziologe Hartmut Rosa erklärt, weshalb der Takt der Gesellschaft sich beschleunigt und worin die wahre Ursache von Burnout liegt
GEO WISSEN: Herr Professor Rosa, viele Menschen plagt heute das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wann hat das begonnen?
PROF. HARTMUT ROSA: Ganz so neu, wie es uns manchmal erscheint, ist das nicht, es begann schon im 18. Jahrhundert. Damals wandelte sich die Gesellschaft massiv, erlebte einen gewaltigen Schub der Veränderung – vor allem mit der Entwicklung einer vom Markt gesteuerten Wirtschaft. Zwar waren auch Gemeinschaften zuvor nicht statisch, auch sie haben sich beständig verändert, durch Kriege, Dürren, Krankheiten, den Wechsel der Herrscher – oder durch Zufall, etwa wenn jemand eine Entdeckung gemacht hatte.
Aber dass eine Gesellschaft gar nicht anders kann, als sich zu verändern, das war ein modernes Prinzip, das mit dem Kapitalismus aufkam. Denn wirtschaftliche Tätigkeit funktionierte von nun an nur durch das Versprechen, dass man mehr gewinnt, als man eingesetzt hat: Geld wird ja immer in der Hoffnung investiert, dass mehr Geld rauskommt.
Fortan musste in immer weniger Zeit immer mehr produziert werden. Denn nun galt: Zeit ist Geld!
Drückte sich diese Beschleunigung anfangs nur in der Ökonomie aus?
Nein, das geschah auf allen Ebenen. Etwa in der Wissenschaft: Hatte man bis zum 18. Jahrhundert Bildung vornehmlich als Schatz angesehen, der von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, kam nun eine völlig neue Dynamik in Gang. Laufend wurden jetzt neue Fragen gestellt, ständig neue Projekte ins Leben gerufen, immer neue Antworten gefunden.
So fing etwa Charles Messier an, den Himmel systematisch nach auffälligen Nebelfleckchen zu durchforsten, nach Galaxien also, und die Astronomie nahm einen gewaltigen Aufschwung. Aber auch die moderne Agrochemie entstand. Mit Teleskopen weit ins All, mit Mikroskopen tiefer in die Materie hinein: Das war die Logik.
Auch in der Kunst zeichnete sich das Prinzip ab. Die Malerei war jetzt nicht mehr mimetisch, Künstler ahmten nicht mehr einfach nur die Natur nach oder imitierten die alten Meister – sondern sie suchten das Originelle, das Innovative. Am deutlichsten kommt dies im Geniekult zum Ausdruck und in den Werken des Sturm und Drang.
Überall ging es zunehmend darum, das Vorgängige zu überbieten. Und immer tiefer verankerte sich die Überzeugung, dass sich eine Gesellschaft nur erhalten kann, wenn sie sich verändert, beschleunigt, wächst, innoviert. Steigerung wurde eine strukturelle Notwendigkeit. Das war im 18. Jahrhundert wirklich neu.
Aber mit jeder technischen Neuerung verschafften Menschen sich doch mehr Zeit, nicht weniger.
Natürlich, die ganze Moderne ist eine einzige Geschichte des Zeitsparens und der Beschleunigung: Mit dem Auto kommen wir rascher voran als zu Fuß, mit dem Flugzeug schneller als mit dem Auto. Waschmaschinen, Staubsauger, Mikrowellen sparen Zeit, E-Mails erreichen ihren Adressaten in Sekundenschnelle. Fast jede Technik ist mit dem Versprechen verbunden, dass wir mit ihr Zeit gewinnen.
Paradoxerweise stellt sich den noch kein Zeitreichtum ein, sondern Zeitknappheit. Denn die Aufgabenmenge nimmt so rasant zu, dass wir sie trotz des Zeitgewinns nicht abarbeiten können. Früher wechselten Menschen einmal in der Woche ihre Kleidung, heute machen wir das täglich. Statt zehn Briefe zu schreiben, lesen wir 30, 40 oder noch mehr E-Mails. Und mit dem Auto legen wir natürlich viel weitere Strecken zurück als Menschen vormals zu Fuß. Die neuen Techniken versprechen aber nicht nur eine Zeitersparnis, sondern in der Regel auch eine Horizonterweiterung.
Was meinen Sie damit?
Mit vielen technischen Neuerungen vergrößern sich unsere Optionen. Viele Innovationen bringen uns mehr Welt in Reichweite. Besitze ich beispielsweise ein Auto, weitet sich mit einem Mal der Horizont, vermehren sich die Möglichkeiten: Ich kann am Abend noch schnell in die Stadt fahren, ein Konzert besuchen, in die Natur hinausgehen, einen Freund treffen. Genauso verhält es sich mit dem Smartphone: Habe ich es dabei, eröffnen sich plötzlich viele neue Optionen – nun kann ich überall und jederzeit online gehen, kann chatten, Nachrichten schauen, shoppen, spielen. Und genau danach sehnen wir uns: nach immer mehr Optionen.
Sind wir einer Sucht ausgeliefert?
Ja, man kann unser Verhalten mit dem eines Süchtigen beschreiben. Wir gieren nach mehr Möglichkeiten, mehr Handlungen, mehr Erlebnisepisoden – und dementsprechend brauchen wir auch mehr und mehr Zeit. Wir können gar nicht anders.
Weshalb?
Weil wir es für eine Bedingung des gelungenen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reichweite zu bringen.
Hinzu kommt: Wir gehen von der irrigen Vorstellung aus, dass allein schon ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten Glück auslöst. Dass wir immer mehr Freiheit erlangen.
Ein Trugschluss?
Ja. Er besteht darin, dass die Steigerung von Möglichkeiten an sich keinen Wert hat; die permanente Vermehrung von Optionen ist ja noch kein Zugewinn an Freiheit. Der tritt logischerweise erst dann ein, wenn ich meine Wahlmöglichkeiten auch realisiere.
Und was denken Sie daran ?